Eine Frage der Gewohnheit
Der Prolog war ein Soloabend mit Songs von Janis Joplin, gesungen von Lena Vogt. Heute beginnt die neue Spielzeit der Wuppertaler Bühnen richtig. Das wäre eigentlich keine besondere Nachricht, weil sich dieses Ereignis jedes Jahr um dieselbe Zeit wiederholt.
Nicht so in Wuppertal. Dort beginnt glücklicherweise zwar auch jedes Jahr eine neue Spielzeit, aber in der jüngeren Vergangenheit immer wieder unter neuen Vorzeichen. Vor zwei Jahren trat Toshiyuki Kamioka seine Allmacht an. Außerdem stieß Susanne Abbrederis als Schauspielchefin dazu.
Inzwischen ist der japanische Superminister ins Dänische gezogen und hat auf dem Podest Platz gemacht für Julia Jones, die demnächst ihr Amt auch offiziell antritt. Um das Musiktheater kümmert sich Berthold Schneider, der aus Darmstadt den Weg nach Wuppertal gefunden hat. Ganz nebenbei, aber umso wichtiger ist die Neuverpflichtung des Tanztheaters Pina Bausch. Dessen Geschicke werden künftig von Adolphe Binder gelenkt, allerdings erst im nächsten Jahr.
Da soll einer noch sagen, in Wuppertals städtischer Kulturszene ging es langweilig zu. Beständig sind nur der Wechsel, die Geldnot und der Zuschauerschwund. Umso bedeutender könnte der Neuanfang nach der Ära Kamioka sein. Der ebenso begabte wie ambitionierte Dirigent des nicht minder begabten Sinfonieorchesters hat als GMD auftragsgemäß ein Trümmerfeld hinterlassen, das Jones und Berthold nun aufräumen müssen. Bisher spricht alles dafür, dass die beiden das können — Jones, weil sie weiß, was sie will, und bewiesen hat, dass sie es auch umsetzen kann. Das gilt auch für Berthold, der obendrein mit fast noch jugendlichem Elan kein Risiko und keine noch so ungewöhnliche Partnerschaft mit der freien Kulturszene scheut. Das funktioniert bestimmt. Die Bühne ist also bereitet.
Nein, sie wäre bereitet, gäbe es da nicht das Sorgenkind Schauspiel. Dessen ebenso engagierte wie sturköpfige Leiterin schreckt aus nicht erfindlichen Gründen auch im neuen Spielplan vor der großen Bühne zurück. Sie bespielt, von zu wenigen Ausnahmen abgesehen, mit ihrem übewiegend jungen und sehr kleinen Ensemble lieber das ebenfalls sehr kleine Theater am Engelsgarten — da ist es leichter, ausverkauft melden zu könnten. Dass sie nach der Freiluftinszenierung „Die Wupper“ nun mit den Buddenbrooks in das Haus Concordia am Werth geht, ist zwar wieder so eine pfiffige Idee, dem ganz großen Publikum stellen sie und ihr Ensemble sich damit aber nicht.
Das jedoch wäre wichtig, um dem Schauspiel in Wuppertal mit großen Inszenierungen auf der großen (Opern-)Bühne den Stellenwert im Kulturspielplan zu geben, den es braucht, um den Anschluss an die Konkurrenz etwa in Bochum und Dortmund nicht vollends zu verlieren. Schauspiel muss wagen, auch auf die Gefahr des Scheiterns hin an Grenzen zu gehen und darüber hinaus. Steuersubventioniertes Schauspiel erst recht. Betritt es nur die kleine Bühne, verliert es Bedeutung und degradiert sich zur Durchgangstation für ambitionierte Nachwuchskräfte wie beispielsweise Tinka Fürst. Sie hat Wuppertal in Richtung Berlin verlassen.
Es geht nicht in erster Linie um mehr Zuschauer, es geht auch nicht um möglichst oft „ausverkauft“. Das ließe sich mit Lachsalven-gespickten Boulevardstücken vermutlich leicht erreichen. Aber dafür ist öffentliche Kulturförderung nicht gedacht.
Es geht um mehr, um größeres Schauspiel. Es geht um Mut, Ehrgeiz, Vision und Wahrnehmbarkeit. Irgendwer, vielleicht Oberbürgermeister Andreas Mucke, wenn er denn endlich Chef des Bühnenaufsichtsrates ist, wird Susanne Abbrederis also davon überzeugen müssen, dass außerhalb der Kuschelwelt am Engelsgarten noch große, vielleicht gefährliche Abenteuer auf Wuppertals junges Ensemble warten. Gelingt das nicht, könnte im nächsten Jahr schon wieder nicht mehr alles sein wie in diesem. Aber das ist das Kulturpublikum inzwischen ja gewöhnt. Außerdem ist der stete Wechsel immer noch besser als ein bedeutungsloses Schauspiel.