Wuppertaler Geschichte Fördern, Fordern, Überwachen

Von extremer Armut hin zu einem Vorzeigemodell: Die Entstehungsgeschichte sozialer Infrastruktur in Elberfeld.

Foto: Anette Hammer

Wuppertal. Seit dem frühen 19. Jahrhundert vollzog sich im Wuppertal ein tiefgreifender Prozess der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Kapitalistische Marktökonomie und städtische Infrastrukturentwicklung waren dabei eng aufeinander bezogene Prozesse. Das Bürgertum in Städten wie Barmen und Elberfeld, die deutschen „Boomtowns“ dieser Zeit, setzte dabei die Standards. Städte wurden allgemein als eine Art „ lebendiger Organismus“ verstanden, den es — zum eigenen Vorteil — „gesund“ zu erhalten galt.

Kein Zweifel: Ein wohlhabendes Stadtbürgertum an der Wupper sah sich selbstbewusst im Zentrum zahlreicher Modernisierungsprozesse. Dagegen stand aber die drastische Armut der arbeitenden Bevölkerung, die zumeist die Kinder und die Älteren betraf.

Die krassesten Auswüchse etwa der Kinderfabrikarbeit konnten auf Initiative des pietistisch geprägten, konservativen Barmer Fabrikanten und Handelskammergründers Johannes Schuchard mit dem Kinderschutzgesetz von 1839 zwar noch einigermaßen eingegrenzt werden.

Bedeutsamer aber wurde künftig der Prozess einer systematischen Neuordnung der kommunalen Armenpflege insgesamt. Im 18. Jahrhundert war die „Armenanstalt“ noch eine exklusiv von der Kirche wahrgenommene und später vom Elberfelder Bürgermeister, Banker und Sozialreformer, Johan Jacob Aders, dann eine städtische Aufgabe. Dieses alsbald überforderte „Wohltätigkeitswesen“ wurde 1853 abgelöst durch eine Mischung aus kommunaler Aufsicht und ehrenamtlicher Armenpflege, die das in Pflegebezirke aufgeteilte Stadtgebiet versorgen sollte:

Das „Elberfelder System“, welches bis 1919 bestand. Das war zugleich die Zeit des wachsenden Vertrauens in technische Lösungen, auch für „soziale Fragen“, die künftig von „Experten“ beantwortet werden sollten. Das funktionierte in der Praxis so, dass den anfangs 252 Ehrenamtlern zunächst zehn, später maximal vier bedürftige Familien zugewiesen wurden, die sie in regelmäßigen Abständen aufsuchten und auf „Bedürftigkeit“ überprüften.

Parallel dazu boten diese Armenpfleger Beratung und Arbeitsvermittlung als „Dienstleistungen“ an: Gleichsam eine frühe Variante des „Förderns und Forderns“, die auch durch einen klaren Trend zur Disziplinierung durch Überwachung geprägt war.

Der Lebenswandel der Unterstützten wurde nämlich höchst peinlich kontrolliert. Wer etwa als „zumutbar“ deklarierte Arbeitszuweisungen ablehnte, schied rigoros aus der Unterstützung aus.

Die sogenannten „Provisoren“ erfüllten ihre Aufgaben komplett in Eigenregie und verfügten dabei über weit reichende Entscheidungsbefugnis, ein Umstand der ihnen sowohl Verantwortung abverlangte, als auch ein Höchstmaß an Macht verlieh. Ihre Motive? Eher unklar. Es verbanden sich hier wohl christlich-patriarchalische Formen der Fürsorge und Nächstenliebe mit den sozialen Disziplinierungsstrategien der kapitalistischen Gesellschaft.

Der Erfolg des „Elberfelder Systems“ war indessen beträchtlich, schlug sich im Ergebnis in den Armenstatistiken und damit auch finanziell nieder. 1870 brachte es ein zeitgenössischer Beobachter gezielt auf den Punkt, indem er Elberfeld als „die vielleicht bettelfreieste Stadt im Lande“ bezeichnete.

Und es war zugleich auch ein Exportschlager: Am Ende des 19. Jahrhunderts galt es in 55 von 71 deutschen Städten als die „ultima ratio“ des damals modernen Sozialwesens der bürgerlichen Gesellschaft, mit internationaler Ausstrahlung bis Budapest und Moskau.