Frage: Herr Prof. Gerlach, Ihr 3800 Seiten starkes Gutachen zu den Planungen und Abläufen bei der Loveparade liegt seit Dezember 2018 dem Gericht schriftlich vor und sollte als nächstes in dem Prozess vor dem Landgericht Duisburg mündlich vorgestellt werden. Jetzt wird der Prozess gegen die drei beschuldigten Mitarbeiter des Veranstalters eingestellt. Weitere Beschuldigte gibt es nicht. War damit Ihre ganze Arbeit vergeblich?
Interview mit Gutachter Prof. Jürgen Gerlach „Das Konzept der Loveparade konnte auf diesem Gelände nicht aufgehen“
Wuppertal · Der Loveparade-Prozess wurde eingestellt. Urteile wurden nicht gesprochen. Die WZ sprach mit Gutachter Prof. Jürgen Gerlach.
Nach 184 Sitzungstagen hat das Landgericht Duisburg am Montag den Loveparade-Prozess eingestellt. Der Vorwurf der fahrlässigen Tötung von 21 Besucherinnen und Besuchern der Loveparade wäre am 27. Juli verjährt. Auch aufgrund der Einschränkungen wegen der Coronakrise sahen es die am Prozess beteiligten Parteien als unwahrscheinlich an, dass das Verfahren bis dahin zum Abschluss kommen würde. Die WZ sprach mit Prof. Jürgen Gerlach von der Bergischen Universität, der seit Juli 2016 zunächst von der Staatsanwaltschaft, dann vom Landgericht Duisburg als Gutachter bestellt wurde.
Prof. Gerlach: „Ich sehe das nicht so. Ganz im Gegenteil. Das Verfahren wie auch das Gutachten haben Aufklärung darüber gebracht, wie es zu der Katastrophe kommen konnte. Die Ergebnisse des Verfahrens und des Gutachtens können in Verordnungen, Regelungen und Handbüchern zur Organisation von Großveranstaltungen einfließen. Die Katastrophe ist zehn Jahre her, und viele Veranstaltungen werden schon heute ganz anders geplant.
Frage: Das Gutachten und die Akten zum Verfahren bleiben unter Verschluss. Welche Erkenntnisse dürfen Sie im Sinne der Forschung öffentlich machen?
Prof. Gerlach: Ich bereite entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen einen Antrag vor, die Erkenntnisse des Gutachtens zu nutzen, um hieraus Lehren für künftige Veranstaltungen zu ziehen. Geplant sind unter anderem die Erarbeitung und Veröffentlichung einer wissenschaftsbasierten Aufbereitung zur Steuerung von Personenströmen bei der Loveparade Duisburg 2010 und eines Handbuchs zur Steuerung, Führung und Lenkung von Menschenmengen.
Frage: Was sind die hauptsächlichen Gründe für die Katastrophe?
Prof. Gerlach: Die Ursachen wurden auf Basis des Gutachtens und der Beweisaufnahme in der öffentlichen Hauptverhandlung von der Kammer vorgetragen. Demnach „dürften sich die tragischen Ereignisse durch eine unkoordinierte Steuerung von Personenströmen in einem Veranstaltungsraum, der für das Veranstaltungskonzept und für die erwarteten und auch die tatsächlichen Besucherströme im Zu- und Abfluss zur und von der Eventfläche nicht geeignet gewesen und dessen Nichteignung im Vorfeld der Veranstaltung von keiner der an der Planung und Durchführung beteiligten Personen und Institutionen erkannt worden sein dürfte, verursacht worden sein“, so der Kammerbeschluss. Es handelte sich um eine besondere Veranstaltung, die es in dieser Form an diesem Ort zuvor noch nicht gegeben hatte. Wiederkehrende Veranstaltungen, bei denen das Personal des Veranstalters und auch die Besucherinnen und Besucher auf Erfahrungswerten aufbauen können, sind im Vergleich dazu relativ sicher, auch wenn es eine absolute Sicherheit nie geben kann. Bei der Loveparade kamen viele Faktoren zusammen. Das Veranstaltungskonzept konnte auf diesem Gelände nicht aufgehen, die Dynamik der Personenströme wurde unterschätzt, der Übergangsbereich von der Rampe Ost auf die Eventfläche und die Vereinzelungsanlagen waren unterdimenisioniert.
Frage: Was sind Vereinzelungsanlagen?
Prof. Gerlach: Das waren bei der Loveparade 60 Zentimeter breite Durchgänge zur Kontrolle der Besucher, zu denen die durch Zäune abgegrenzten Gänge zu schmal waren. Hatten die Besucher die Schleusen passiert, trafen sie auf die Floats (Lastwagenanhänger mit der Techno-Musik, die sich im Kreisverkehr bewegten, d. Red.). Das hatte zur Folge, dass sich die Massen nicht zügig auf dem Gelände verteilten, sondern sich ein Stau im oberen Bereich der Zugangsrampe bildete. Die Vereinzelungsanlagen wurden vorübergehend geschlossen, außerdem Polizeiketten gebildet, um zu verhindern, dass weitere Besucher in Richtung Eingang nachrückten. Aufgrund der Drucksituation wurden die Vereinzelungsanlagen dann wieder geöffnet. Diese unkoordinierte Steuerung im Eingangsbereich wäre selbst für die erwartete Besucherzahl nicht ausreichend gewesen. Am Tag selbst gab es einige Möglichkeiten, auf die Gefahrenlage zu reagieren, zum Beispiel durch eine koordinierte Steuerung. Demgegenüber wurden Entscheidungen größtenteils Lage abhängig getroffen – und zum Teil anhand der jeweiligen Lage im unmittelbaren Umfeld der jeweiligen Steuerungseinheit und nicht anhand der Lage im Gesamtsystem.
Frage: Wie hätte man mit dem Druck im Eingangsbereich umgehen sollen?
Prof. Gerlach: Ein solcher Druck darf gar nicht erst entstehen. Bei der Loveparade wurden die Besucher wie in einem Trichter auf die Eingänge gelenkt. Die bessere Lösung ist ein Zugang in Schlangenform, wie man sie zum Beispiel vor den Fahrgeschäften im Phantasialand kennt. Und wenn sich Druck aufbaut, dann ist eine klare Kommunikation wichtig. Wenn keiner den Besuchern sagt, was los ist, wird weiter gedrängelt. Erfahren die Besucher, dass zum Beispiel der Anpfiff eines Fußballspiels später erfolgen wird und sie noch rechtzeitig ins Stadion kommen, dann gibt es keinen Grund mehr, sich vorzudrängeln.
Frage: Haben die Veranstalter Konsequenzen aus der Katastrophe gezogen?
Prof. Gerlach: Veranstaltungen, die so wie die Loveparade zum ersten Mal stattfinden, können Problemfälle sein. Man hat dazu gelernt: So wurde beispielsweise ein Ed-Sheeran-Konzert auf dem Flugplatz Essen-Mülheim abgesagt, weil das Gelände für die erwarteten Menschenmassen nicht geeignet war.