„Ich wusste sofort, dass sie tot sind“

Ruth Krähwinkel erlebte das Kriegsende als 15-jährige Waise an der Briller Straße. Die Amerikaner beschlagnahmten ihr Haus, die Großeltern standen ohne Bleibe da.

Foto: Andreas Fischer

Ruth Krähwinkel verbringt auch diese Nacht im April 1945 mit ihren Großeltern im Felsenkeller an der Briller Straße, schräg gegenüber vom Fernmeldeamt. In der gespannten Stille weiß jeder der vielen Menschen hier, dass die alliierten Panzer jeden Moment heranrollen werden. Dann hört man, dass die Amerikaner bereits in der Friedrich-Ebert-Straße seien. Mit ängstlicher Neugier treten die Menschen aus dem Keller und hören das Grollen der herannahenden Panzer.

„Da ertönte plötzlich eine laute Stimme: Oben auf dem Dach des Fernmeldeamts sind zwei Jungen mit Gewehren im Anschlag“, erinnert sich Ruth Krähwinkel heute. Sie sitzt auf dem Sessel in ihrem Wohnzimmer, neben ihr lauscht Wellensittich Hansi der Stimme seiner Besitzerin. „Uns war allen klar, was das bedeutete. Wenn sie schießen, antworten die Amerikaner auf das Feuer.“ In letzter Sekunden holen zwei Männer die beiden Jungs vom Dach, die 15-jährige Ruth rennt mit ihren Großeltern ins Haus und lugt durchs Fenster: Die Panzer fahren langsam die leere Briller Straße hinauf. Aus vielen Fenstern hängen weiße Betttücher zum Zeichen der Kapitulation. Der Krieg ist vorbei, was kommt nun?

Ruth Krähwinkel hat im Nachkriegsdeutschland drei Kinder großgezogen, lebt noch immer im eigenen Haus in Sonnborn. Wenn sie von damals erzählt, behält die 85-Jährige auch bei der schlimmsten Erinnerung ein zaghaftes Lächeln bei, als wolle sie sich selbst beschwören, dass alles hinter ihr liege.

Ruth Krähwinkel hält sich an ihren privaten Fakten fest, kennt genaue Daten, kann vorübergehende Unterkünfte im Detail beschreiben. Doch wie sie sich damals gefühlt hat, das beschreibt sie nur selten. Vielleicht, weil Trauer, Angst und Verzweiflung damals höchst privat gehalten werden mussten. Vielleicht auch, um sich heute noch vor den traumatischen Erfahrungen zu schützen.

Denn als das 13-jährige Mädchen Ruth am Abend des 18. Juni 1943 am Steinbecker Bahnhof in einen Zug steigt, der die ganze Schulklasse zur „Kinderlandverschickung“ in den Süden bringt, sieht es seine Eltern zum letzten Mal. Nur sieben Tage später, am 25. Juni 1943, sterben beide beim Angriff auf Elberfeld im Haus in der Reichsgrafenstraße.

„Ich wusste sofort, dass sie tot sind“, erinnert sich Ruth Krähwinkel, die vom zweiten verheerenden Bombenangriff auf Wuppertal gemeinsam mit der Schulklasse in Süddeutschland erfährt. „Viele meiner Mitschüler haben Telegramme bekommen mit Nachrichten von Verwandten, ich nicht“, sagt die 85-Jährige und knetet ihre Hände. „Wir sollten ja auch immer Postkarten nach Hause schreiben, wie es uns ergeht, ich habe nur noch draufgeschrieben: Lebt ihr noch?“

Als Ruth Krähwinkel Gewissheit hat, darf sie zur Beerdigung nach Wuppertal zurück. Monatelang schlagen sich die Großeltern mit der Enkelin in Notunterkünften durch, bis schließlich Villen im Briller Viertel beschlagnahmt und den Obdachlosen bereitgestellt werden.

Die Familie bezieht den Teil einer großen Villa und sehen dort im April 1945 durchs Fenster die amerikanischen Panzer. Nur zehn Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner wird ihr und den Großeltern von GIs befohlen, das Haus innerhalb von 40 Minuten zu räumen, es sei beschlagnahmt.

Keuchend tragen die drei alles aus dem Haus, was sie greifen können und laden es auf ein hastig aufgetriebenes Fuhrwerk. Als die Zeit abgelaufen ist, nehmen die Amerikaner das Haus ein, und die Familie steht erneut ohne Bleibe da. Sie finden eine Wohnung in der Sadowastraße, schleppen Wasser von weit entfernten Hydranten nach Hause, stehen schon um 6 Uhr beim Bäcker an, der ab 8 Uhr seine spärliche Ware anbietet. Um 8.30 Uhr ist alles ausverkauft.

Ein gutes Mittagessen zu bekommen, war 1945 das Maß aller Dinge. Alles, was eine Rückkehr zum zivilisierten Leben verspricht, wird begeistert gefeiert. „Ich weiß noch, dass am zweiten Pfingstfeiertag die ersten Tropfen aus dem Wasserkran kamen“, sagt Ruth Krähwinkel — und es klingt, als sei damit das Haus wieder zum Leben erweckt worden.