Was glauben Sie denn? „Typisch evangelisch“?

Wuppertal · Der 31. Oktober ist für die evangelische Kirche ein wichtiger Feiertag. Dabei geht er nicht auf ein biblisches Ereignis zurück.

Pfarrer der Reformierten Gemeinde Ronsdorf und stellvertretender Superintendent

Foto: ev. Kirche Wuppertal

Jetzt fange ich diese Kolumne zum sechsten Mal an. Zum „Reformationstag“ soll ich was schreiben. Die fünf vorherigen Versuche erspar ich Ihnen. Nach einem Gespräch im Familienkreis wurde ich von der Erkenntnis überwältigt, dass sie getrost in der Schublade bleiben sollten. Hier, unabgesprochen, Versuch Nummer sechs.

Der Reformationstag ist der einzige „Feiertag“ der evangelischen Kirche (zumindest im Rheinland), der sich nicht auf eine biblische Geschichte beruft wie Weihnachten, Ostern oder Pfingsten. Ein solcher Feiertag braucht eine Begründung, die mehr sein sollte, als dass er an ein (welt-) historisch wichtiges Ereignis erinnert.

Wichtig ist mir dieser Tag, weil er meine Kirche heute noch an die vier Säulen verweist, auf denen sie steht: Allein Christus, allein die Gnade, allein der Glaube, allein die Schrift (Bibel). Darum ging es der Reformation.

Freiheit und Heil inmitten einer unfreien und heillosen Welt findet der Mensch allein bei Christus. Alle Knechtschaft muss aufhören – auch die, in die eine Kirche zwingt, wenn sie sich selbst mit Christus verwechselt.

Allein die Gnade Gottes macht den Menschen frei. Es darf und muss ein Ende haben mit dem Leistungswahnsinn und der puren Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Die Botschaft von der Gnade Gottes ist für manche/n die letzte Luftblase, in der er/sie noch Atem holen kann in der vergifteten Atmosphäre von unbarmherzigem Selbstoptimierungswahn und daraus folgenden Selbstzweifeln.

Allein im Glauben kann diese gute Nachricht in unserem Leben zur Wirkung kommen. Allein das Vertrauen auf Gott schenkt uns einen notwendigen, heilsamen Zweifel. Den Zweifel daran, dass wir am Ende doch nur Marionetten von herrenlos gewordenen Gewalten sind. Und dieses Vertrauen gibt Kraft, ihrer nicht zu leugnenden Macht zu widerstehen.

Erfunden hat die Kirche diese gute Nachricht nicht. Sie lässt sich von ihr in Kenntnis setzen. Allein aus den Worten der Bibel hört sie von Gottes Verheißungen, von seiner unerschütterlichen Liebe und seinem Gebot, das heilvolle Grenzen setzt. Dieses Buch ist ihr mehr als toter Buchstabe. Sie erhofft und erwartet, aus ihr Gottes Geist selbst zu hören, der sie durch die Zeiten trägt.

Vier Mal heißt es: „Allein“. Schon merkwürdig. „Allein“ geht doch nur einmal, oder? Aber vielleicht ist das ja „typisch evangelisch“. „Evangelisch ist kompliziert“, sagte ein katholischer Freund. Stimmt. Aber das Leben ist es auch. Und ein Glauben, der im Leben nicht vor die Hunde gehen will und die vielen Widersprüche und unlösbaren Fragen nicht einfach leugnen oder vor ihnen weglaufen will, muss ertragen, auch schon mal „kompliziert“ zu wirken und anstrengend zu sein.

Mancher vermisst das klare, eindeutige, autoritative Wort in der evangelischen Kirche, eine Hierarchie, in der am Ende einer das letzte Wort hat, einen Repräsentanten der für die „Weltkirche“ sprechen kann. Muss man denn ewig diskutieren? Die evangelische Antwort ist: Ja, muss man wohl. Denn keine Institution, kein Mensch – nicht einmal ein Papst – tritt an die Stelle dessen, der wirklich das letzte Wort hat. Gott selbst.

Mich nerven manche Diskussionen in meiner Kirche auch, und in manchen Fragen habe ich eine klarere Haltung, als sie meiner Kirche aus welchen Gründen auch immer möglich scheint. Aber ist es nicht eine weise Entscheidung, auch die eigene Erkenntnis und Meinung den Erkenntnissen und Sichtweisen der anderen auszusetzen, selbst Überzeugungsarbeit zu leisten und sich gleichzeitig die Offenheit zu bewahren, von anderen korrigiert zu werden?

Die „Reformation“ hat genau das eingeklagt und sie hat es dann umzusetzen gewagt. Dieses Wagnis auch einzugehen – daran erinnert mich der Reformationstag. Und daran, dass auf diesem Wagnis Gottes Segen liegt.

Sechs Versuche habe ich zu dieser Kolumne gebraucht. „Typisch evangelisch“ vielleicht. Manchmal stottern wir halt – auch in der Hoffnung, dass Gott selbst uns dann besser unterbrechen und zur Umkehr rufen kann.