Was glauben Sie denn? Sie wurden zerstreut unter alle Völker

WUppertal · Es gab und gibt wohl nur wenige Juden, für die ein Leben ohne Poesie und Musik vorstellbar ist.

Wuppertal

Foto: Fries, Stefan (fri)

Im Jahr 70 zerstörten die Römer bekanntlich Jerusalem und seinen Tempel, das geistige und geistliche Zentrum aller Juden. Viele Jahre danach gab es aber auch noch Kämpfer in Judäa, die das römische Joch abwerfen wollten. Nach der endgültigen Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes im Jahr 132 machten die Römer dann jedoch kurzen Prozess, vertrieben die Überlebenden außer Landes und strichen das Königreich Judäa von der Landkarte. Es wurde zur römischen Provinz Philistäa. Einer unserer großen Gelehrten in dieser Zeit war Jochanan ben Sakkai. Er hatte vorausschauend schon vor dem Jahre 70, unter dem Statthalter Vespasian, dem späteren Kaiser, die Genehmigung eingeholt, in der damaligen Hafenstadt Jawne ein Lehrhaus einrichten zu dürfen. Dorthin floh er mit einigen Getreuen und die Römer ließen ihn gewähren, da er immer loyal gewesen war. Von dort aus nahm er Verbindung zu den seit Jahrhunderten in Babel und anderen Städten Kleinasiens bestehenden jüdischen Gemeinden auf. Diese hatten immer den Kontakt zum Tempel in Jerusalem gehalten, daneben aber den Opferdienst schon in eine Gebetsstruktur umgewandelt. Die wichtigsten Lehren waren bereits schriftlich im Kanon der Hebräischen Bibel niedergelegt und man begann auch die Diskussionen der Gelehrten schriftlich zu sammeln, aus denen dann der Talmud entstand. Die Umgangssprache war damals Aramäisch. Damit die Kenntnis der hebräischen Sprache nicht verloren ging, begann man, den Konsonantentext mit kleinen Zeichen zu versehen, welche die Aussprache der Vokale deutlich machten. Zusätzlich setzte man sog. „Akzente“ (Melodiezeichen) ein, die auf die Textbetonung, auf besonders dramatische oder lyrische Stellen verwiesen und die bis heute gelten.

Man hatte schon vor der Zerstörung des Tempels einen Chasan/Vorbeter oder Vorsänger für den feierlichen Vortrag der Gebete und Texte engagiert, der die hebräische Sprache noch wirklich beherrschen musste. Der Vorsänger trug im Wechsel mit einem Chor und mit Instrumentalbegleitung vor. Nach dem Verlust des Heiligtums ordneten die Gelehrten an, dass zum Zeichen der Trauer über diesen Verlust Chorgesang und Instrumentalmusik im Gottesdienst nicht mehr angemessen seien und zu unterbleiben habe. Die Gestaltung der Gottesdienste lag jetzt erst recht auf den Schultern des Chasan. Die „Akzente“, „Neginot“ oder „Te’amim“ genannt, ließen dem Chasan viel Freiheit zu Kantillationen. Die frühen Christen, die anfangs vieles aus dem synagogalen Gottesdienst übernahmen, entwickelten aus dem Sprechgesang die Gregorianik.
Was aber wurde nun aus den vielen Instrumentalisten, deren Aufgabe es gewesen war, dreimal täglich die Gottesdienste und besonders die Feiertage würdevoll, aber auch fröhlich zu gestalten? Gewiss siedelten sich einige in den bestehenden Gemeinden Kleinasiens an, aber erstmals zogen viele auch mit den Römern in alle Anrainerländer des Mittelmeeres und sogar bis in den Norden nach Germanien entlang des Limes.

Es gab und gibt wohl nur wenige Juden, für die ein Leben ohne Poesie und Musik vorstellbar ist. Wenn man nun die Gottesdienste nicht mehr musikalisch begleiten durfte, blieb immerhin der häusliche Bereich. Dort konnte man auch Trauer musikalisch ausdrücken, aber sich ebenso wieder dem Leben mit Tanz und Gesang zuwenden. Spannend war, dass man in den anderen Ländern andere Instrumente und auch andere Musikstile kennenlernte. Musiker sind in der Regel aufgeschlossen für Neues und so kommt und kam es schon damals zu einem regen Austausch. Wenn es auch noch lange Zeit keine Noten gab, wie wir sie heute kennen, so hatte und hat doch jede Volksgruppe ihre typischen Melodien und Rhythmen.

Juden, die sich von Andalusien bis Südfrankreich ansiedelten, entwickelten dort eine neue Umgangssprache, das Ladino, und lernten ab dem 8. Jahrhundert auch noch arabische Instrumente und Musikstile kennen. Diese sephardischen Elemente nahmen sie später mit bis nach Holland und  Hamburg und im Mittelmeerraum bis in die heutige Türkei. Bei den Berberstämmen im Atlasgebirge, auf der Insel Djerba (Tunesien) und im Jemen sind noch sehr alte Weisen erhalten.

Da Juden lange Zeit und in vielen Ländern zu den meisten Berufen nicht zugelassen wurden, haben viele die Musik zu ihrem Beruf gemacht. Sängerinnen und Sänger und Instrumentalistinnen und Instrumentalisten waren oft so berühmt, dass sie regelmäßig bei Festen der Fürsten und Könige aufgespielt haben. Auch bei den muslimischen Herrschern waren jüdische Musikerinnen und Musiker sehr beliebt. Selbst bei der Hochzeit der „Katholischen Könige“ Ferdinand und Isabella haben sie aufgespielt, was diese allerdings nicht darin hinderte, 1492 alle Juden aus ihrem Herrschaftsgebiet zu vertreiben.

Unter den im Mittelalter beliebten Minnesängern hat es in Frankreich auch Juden gegeben. Ob der in der Manesse-Handschrift abgebildete Süßkind von Trimberg Jude war, lässt sich nicht genau klären.

Wenn Sie mögen, werden wir demnächst unsere Reise über den Osten, durch die arabischen Länder bis in die Neuzeit fortsetzen.