Evita: Ein Engel entpuppt sich als Biest
Argentinien liegt seit Samstagabend in Barmen: Nach der Wuppertal-Premiere des Evita-Musicals gab es minutenlangen Applaus.
Wuppertal. Was denkt der britische König, wer er ist? Evita (Banu Böke) schnauft nicht etwa vor Wut — das wäre zu ordinär. Man sollte wohl eher sagen: Die Diva japst pikiert nach Luft. Eine Einladung zum Tee in irgendeinem „schäbigen Schloss?“ Evita schüttelt den Kopf. Das kommt nicht infrage. Der Ort, der ihr gebührt und einer Audienz würdig wäre, liegt ganz woanders: Sie verdient den Buckingham Palace. Das zumindest glaubt die skrupellos Ehrgeizige, die vom argentinischen Volk erst verachtet und verspottet, später verehrt und — nach ihrem Tod — gar schmerzlich vermisst wird.
Doch der Reihe nach: Zwar beginnt der Musical-Abend im Opernhaus mit Evitas Tod. Doch dann beginnt alles von vorne: Der junge Student Che (Patrick Stanke) entpuppt sich als charmant-ironischer Erzähler und nimmt das Wuppertaler Publikum rückblickend mit nach Argentinien. Wie ein Schatten folgt er der Titelfigur, die zielstrebig ihren Weg geht und vom armen Mädchen zur First Lady aufsteigt. Schnell wird im „Evita“-Stück — die Musik stammt von Andrew Lloyd Webber, das Libretto von Tim Rice — klar, wer sich unverblümt ins Rampenlicht drängt: Evita fühlt sich von Anfang an wie eine Königin. Banu Böke füllt die Rolle — ebenfalls von Beginn an — perfekt aus. Am Ende ist sie die Königin der Herzen — als Evita auf der Bühne vom Volk umjubelt, als Hauptdarstellerin im Opernhaus vom begeisterten Publikum gefeiert.
Aurelia Eggers Inszenierung lehnt sich an die Broadway-Produktion von Theaterregisseur Harold Prince an. Nachdem es schon bei der ersten Vorstellung im Mai in Solingen viel Applaus gegeben hatte, kam am Samstagabend auch die Wuppertal-Premiere im voll besetzten Opernhaus bestens an. Bravo-Rufe, begeisterte Pfiffe und stehend gespendete Ovationen krönen den zweieinhalbstündigen Abend, der allerdings nicht in jeder Szene vollends überzeugen kann.
Das Dilemma zeigt sich nicht nur, aber vor allem im Zusammenspiel von Patrick Stanke und Banu Böke: Die Stimmen des Musical-Profis und der Opern-Expertin passen nicht wirklich zueinander. Weitaus besser harmoniert Banu Böke - gesanglich gesehen - mit ihrem Ensemble-Kollegen Olaf Haye, der einen überzeugenden General abgibt, vom Grundsatz her distanziert-streng wirkt, zugleich den Reizen Evitas erliegt, die keinesfalls nur die starke Frau im Hintergrund ist, sondern sich gezielt in den Vordergrund spielt.
Die Wuppertaler Bühnen lassen keinen Zweifel aufkommen: Evita, vom argentinischen Volk als „Mischung aus Hure und Heiliger“ charakterisiert, ist gerissen und eitel. So fallen deutliche Worte: Als „Flittchen“ und „Schlampe“ wird „diese vulgäre Gossen-Kreatur“ tituliert und von der gehobenen Gesellschaft argwöhnisch beäugt. Auch wenn sie später zum Engel der Armen erklärt wird und mit scheinbarer Reue beteuert: „Nach Ruhm und Reichtum strebte ich nie.“
Wohlgemerkt: Schauspielerisch sind die Rollen allesamt perfekt besetzt. Gesanglich jedoch offenbaren sich Fallhöhen, die nicht zu leugnen sind, wenn sich zwei Genres begegnen und Musical auf Oper trifft. Böke stößt auf dem Musical-Parkett stimmlich an Grenzen. Am besten ist sie, wenn sie gewohnte Opern-Höhen verlässt und — vor allem im zweiten Teil — ruhige, unaufgeregte Momente nutzt, um ihr ganzes emotionales Taktgefühl auszuspielen. Als Evita spürt, dass sie körperlich schwächer wird, innerlich aber stark bleiben will, fällt ihre Maske. Genau das ist die Basis für Bökes stärkste Szene: Ihr Höhepunkt ist das grandios vorgetragene „Don’t Cry For Me Argentina“. Ein kleines Manko am Rande ist rein optisch zu sehen: Während Evita in Würde erblondet und immer erschöpfter wirkt, scheint Perón (Olaf Haye) nicht zu altern.
Musikalisch gesehen gibt es erst im zweiten Teil Melodien mit Mitwipp-Möglichkeiten, die ins Ohr gehen und auch im Zuschauersaal die Zehenspitzen in Bewegung bringen. Dazu zählt „And The Money Kept Rolling In (And Out)“, mit dem Patrick Stanke für Stimmung sorgt.
Dass er stimmlich im Musical zu Hause ist, spürt man in jeder Szene. Lässig und leichtfüßig führt er durch den Abend — bei ihm versteht man jedes Wort. Denn auch das ist ein Dilemma: Übertitel ist man aus der Oper gewohnt, doch im Musical gelten nun mal andere Gesetze.
Wer nicht gerade die Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche auf der Tafel über der Bühne mitliest, sieht zwei weitere exzellente Akteure: Boris Leisenheimer gibt einen herrlich überzogen-schmalzigen Sänger („In dieser sternenklaren Nacht bringe ich dich ins Paradies“), und Annika Boos hat als Peróns frühere Geliebte zwar nur einen einzigen großen Auftritt, nutzt ihn aber ganz bezaubernd.