Freies Netzwerk Kultur Ein Frühling im Konjunktiv

Ob die Kultur uns helfen kann, entscheiden wir selbst, sagt Max Christian Graeff.

Max Christian Graeff vom Freien Netzwerk Kultur.

Foto: C. Paravicini

Morgens um sieben sei die Welt noch in Ordnung, ließ der Dichter Robert Browning vor 180 Jahren das Mädchen Pippa singen, und in der Idylle des Gedichts, in dem alles Seiende kurz auf dem richtigen Platz ist, schwelt bereits die Auflösung dieses flüchtigen Moments. Als ich heute früh in die Dämmerung schaute, kramten die Ringeltauben Herrmann und Dorothea heiter im Kompost, doch statt des erwartbaren Turtelns begannen sie plötzlich einen heftigen Streit. Ich war empört, bis mir einfiel, dass es zu Goethes Zeit die Sommerzeit noch gar nicht gegeben hatte. Und siehe da, pünktlich um acht (also um sieben) hockten sie wieder verliebt gurrend in der Kirsche und alles wäre gut gewesen – doch da hatte ich schon Zeitung gelesen und alles war entsetzlich. Was wäre, wenn … Das Leben ist jeder und jedem von uns zum Konjunktiv geworden: Ohne das Virus wäre ich ganz sicher endlich reich – oder wenigstens berühmt oder Vater oder auch … tot, wer kann es wissen, und viele andere lebten hingegen noch. Zumindest letzteres ist sicher.

Das Sinnieren darüber, wie etwas sein könnte oder gewesen wäre, gehört zu unseren kulturellen Fähigkeiten: Wir machen uns etwas vor oder nach und entwickeln das Denken darin weiter, schreiben das Buch des tatsächlich geschehenden Lebens, das zur Geschichte wird. Jeder Mensch schreibt die Geschichten seiner eigenen Fantasie; manche tun es beruflich, öffentlich und als das, was man Kunst nennt, worüber sich andere anschließend streiten. Entscheidend ist, dass wir es können, sogar, wenn wir es mal nicht so tun dürfen wie gewohnt. So, wie es früher war, vor unserem Seuchenfall. Doch war es wirklich das Paradies, aus dem wir da geworfen worden sind? Viele Milliarden Menschen können dem wohl kaum zustimmen. Das Dasein war auch vorher schon auf Kante genäht und die Party der wenigen Feiernden eigentlich längst over. Das Containerschiff voller Wackeldackel aus Fernost in der Suez-Thrombose ist ein ikonisches Bild des Desasters. Militärs laufen Amok, die Religionsfreiheit liegt am Boden und jedes vieldiskutierte Totalversagen in den wohlgenährten Verteilungs- und Wahlkämpfen der Virenkrise war strukturell bereits vorgezeichnet. Ein Grund, angesichts dieses Infernos trotzdem gerne zu leben, solange man eben lebt, ist die Hoffnung und deren Treibstoff die Kunst.

Wer nun – wie es immer öfter geschieht (und kürzlich auch als Reaktion auf diese Kolumne eintraf) – der „Kultur“ ihre Gültigkeit und Geltung abspricht, und sei es nur aus reinem Neid auf das viel zu kleine Hilfsbudget, der hatte schon vorher nicht verstanden, wovon er spricht und wie sehr er selber davon lebt. Wer die Kunst gerade jetzt in einen absurden Wettbewerb mit anderen Lebensnotwendigkeiten stellt, beraubt sich selbst und hetzt gegen jedes Gemeinwohl. Wer Nöte gegeneinander ausspielt, bedient die egoistische Maschinerie, und daran ist kein Virus schuld.

Die Nerven liegen blank; jede und jeder leidet an der Situation auf eigene Weise. Die Kirchen sind vielen keine Tröster mehr; die meisten medialen Unterhaltungsevents spachteln lediglich die Synapsen dicht. Diese besonderen Ostertage wären ein Anlass für jede und jeden, über die eigene Kultur nachzudenken und wie die Kunst uns helfen kann. Sie als verzichtbar zu sehen, wäre ein zu stiller Tod. Lesen Sie sich etwas vor, und lesen Sie es neu! Es geht darum, was wir aus der Hoffnung machen und diese mit uns, denn auch wenn uns Theater, Konzerte und Ausstellungen bald wieder beim Denken helfen werden: morgens um sieben ist nichts, wie es war.