Schauspiel-Premiere Happy End für Romeo und Julia
Ungewöhnliche Aufführung mit ungewöhnlichem Ende in ungewöhnlichen Zeiten: Nicolas Charaux inszeniert Romeo und Julia im Opernhaus Wuppertal.
Es geht um die unbezwingbare Kraft der Liebe und der Imagination. Und es geht um unsere Wahrnehmung, die bestimmt, ob wir Schwierigkeiten als ausweglos oder als Herausforderung empfinden, ob uns Grenzen zu Gefangenen machen oder zur Überwindung reizen. Die überzeugenden Bilder dazu liefern ein Regisseur, der über Charlie Chaplin, über Clownerie und Zirkuskunst zum Theater fand, und spiel- und experimentierfreudige Schauspieler. Gemeinsam und mit viel Fantasie und Unterhaltungsknowhow entrümpeln sie einen Klassiker, so dass er kaum wiederzuerkennen ist. Präsentieren ihn als teilweise lose anmutende Aneinanderreihung skuriler, abstoßender, hysterisch-absurder, aber auch kitschig-schöner Szenen. Am Samstag ging im Barmer Opernhaus eine Schauspiel-Premiere über die Bühne, die bewies, dass Shakespeares viel gespielter Klassiker „Romeo und Julia“ immer noch ungesehenes Potential birgt.
Es ist das wohl populärste Liebesdrama der Welt, entstanden zwischen 1594 und 1596, Vorlage für zahlreiche Verfilmungen und Vertonungen, Quell beliebter Weisheiten und romantischer Bilder, der Verona zum Tourismusmagnet und die Namen Montague und Capulet zu Synonymen für Familienfehden machte. Das Wuppertaler Schauspiel versprach, „Romeo und Julia“ „vor dem Hintergrund von Pandemie, Ausnahmezustand und Sicherheitsmaßnahmen als Geschichte zweier Liebender, die alle Regeln brechen“, zu zeigen. Ein Versprechen, das eingelöst wurde, indem konsequent, vom Anfang bis zum Schluss, Sehgewohnheiten jäh aufgebrochen und auch die Geschichte selbst (inklusive Finale) verändert wurden.
Nach opernartigem Auftakt mit klassischer Ouvertürenmusik vor geschlossenem, königsblauem Vorhang treten mit Kappen, Perücken, Anzügen oder Kleidern sowie das komplette Gesicht bedeckenden Masken unkenntlich gemachte Gestalten hinter einer gazeartigen Wand auf, die sie zum Zuschauerraum hin trennt. Im nebligtrüben Nichts gefangene fünf Männer und zwei Frauen, die nach Betätigung suchen, brabbeln und murmeln, kurz zu Bildern erstarren, dann im Kreis laufen. Während der Zuschauer schon überlegt, wer Romeo, wer Julia sein könnte, finden die Protagonisten die Sprache wieder und wollen „über ein spannendes Thema“ sprechen: „die Liebe“.
Dass die sowohl schöne als auch hässliche Seiten und Kraft hat, ist Kernthema der Shakespeare’schen Vorlage, die Dramatik und Lyrik, Tragik und Komik, Zynismus und Emotion, Spontaneität und Provokation, Zartheit und Deftigkeit zu vereinen weiß. Also wiegen sich zwei Gestalten zu italienischer Schnulzenmusik, während hinter ihnen ein Film läuft, in dem Polizisten und Demonstranten aufeinander losgehen und über den Shakespear’sche Lyrik über Liebe, Hass und Frieden eingeblendet wird. Also beginnt die Geschichte um die Liebenden im neblig-dunklen Raum, die Personen bleiben unkenntlich, einzelne treten an Kameras heran. Ihre abstoßend-maskierten Gesichter, die nur Augen, Nasenlöcher und Münder freilassen, werden in mannigfacher Vergrößerung auf die Gaze projiziert - Fratzen, die die Zuschauer ansehen, während sie den Text rezitieren.
Corona-Schutzbedingungen
einfallsreich eingebaut
Mit der Begegnung der Liebenden aber ändert sich auch dieses Bild: Die Masken werden abgenommen, das Gefängnisgitter verschwindet, Farbe kommt ins Geschehen. Das aber nach wie vor in einem leeren, nur durch ein Geländer nach außen begrenzten und einen Abgang in der Mitte getrennten Raum seinen Lauf nimmt. Auch das Licht wird immer wieder nur punktuell und spukhaft eingesetzt, erhellt selten die ganze Bühne.
Der 1982 im französischen Lunéville geborene Nicolas Charaux, Literaturwissenschaftler und mehrfach ausgezeichneter Regisseur, wechselt gerne Erzählformen und Spielweisen, setzt als Teamplayer auf das Ensemble. Was freilich im aktuellen Fall durch die Coronakrise einerseits erschwert bis unmöglich wurde, andererseits neue Kraft gewann. So musste die für den März 2020 eingeplante Premiere gecancelt und mühsam in die neue Spielzeit gerettet werden. Der Regisseur selbst konnte lange nicht vor Ort arbeiten und musste seine Inszenierung umarbeiten. Nicht zu deren Nachteil: Er machte aus der Not eine Tugend.
Die Hygieneschutzvorschriften wurden in die Aufführung gekonnt eingebaut, das Abstandhalten fällt meist nicht auf oder dient als surreales oder komisches Moment. Das Thema Maske wird in all seiner Vielfalt, von der Theaterrequisite bis zur Corona-Schutzmaske präsentiert. Vom Blümchenkohlkopf, den Paris (Kevin Wilke) tragen muss, bis zur Alltagsmaske, die Julia (Julia Meier) und Romeo (Kostantin Rickert) während der Trauung über die Augen schieben. Einige Akteure tragen Handschuhe, außerdem nimmt Lorenzo (Luise Kinner) die Coronaschutzvorschriften, die für die Theaterarbeit gelten, in einer skuril-überdrehten Einlage auf die Schippe. Emotionsausbrüche und überspringende Aktionen spiegeln die sterile, fremde und fremd gewordenen Welt wider. Einerseits. Andererseits aber ist in dieser Welt alles möglich: Der Tod im Duell geschieht mittels Hinlegen, Getötete stehen wieder auf, ein verbannter Romeo hat Glück, weil er nicht getötet wurde.
Da wundert es kaum noch, dass die Liebenden überleben und eng umschlungen im Happy End zueinander finden, damit als einzige das Abstands- und Berührungsverbot unterlaufen - und zugleich von den anderen Akteuren im Schutzanzug mit weiß schäumenden (Desinfektions?-)Sprays bespritzt werden: erstarrtes Symbol der unbezwingbaren Kraft der Liebe und Imagination. „Endlich wieder ein Theaterabend“, freute sich Intendant Thomas Braus. Das Publikum applaudierte lang anhaltend.