Theater Was sollen denn die Nachbarn denken?
Das Schauspiel feierte am Samstag die Premiere der Drei-Personen-Inszenierung von „Die Marquise von O....“ im Theater am Engelsgarten.
Moral, Unmoral, Doppelmoral: Die Marquise von O. erlebt all das. Während einer Ohnmacht von russischen Soldaten vergewaltigt, von einem russischen Offizier gerettet, schwanger, entehrt, verstoßen – das sind die Zutaten der Erzählung von Heinrich von Kleist, die der große deutsche Dichter 1807 veröffentlicht und für die er reichlich Empörung geerntet hat.
Kriege gibt es immer noch, und immer noch werden Frauen Opfer von Gewalttaten, verübt von Soldaten der Siegermacht. Insofern hat Kristina Trosits das Stück mit Fug und Recht in die Gegenwart verlegt. Am Schauspiel Wuppertal feierte sie mit ihrer Drei-Personen-Inszenierung am Samstag Premiere, vor Corona-bedingt halbleeren Stuhlreihen. Doch der langanhaltende Beifall nach Ende des etwa anderthalbstündigen Spiels dürfte Regisseurin und Schauspieler über die leeren Stühle im Theater am Engelsgarten hinweggetröstet haben.
Das Bühnenbild verlangte
den Schauspielern einiges ab
Der Applaus war in der Tat verdienter Lohn für eine überaus ansprechende Darbietung, die Silvia Munzón López, Madeline Martzelos und Konstantin Rickert in der zu einem künstlich-künstlerischen, ungemütlichen, ja fast abweisenden Raum gestalteten Bühne körperlich einiges abverlangte. Bühnenbildnerin Nina Sievers hat den Schauspielern eine kalte Atmosphäre angeboten. Plastikwände, Neonlicht, Spiegelstreifen auf weißen Flächen – kein Rückzugsraum, keine Ecke, sich zu verstecken. Schließlich geht es um die nackte Existenz einer jungen Frau, einer jungen Witwe, die vergewaltigt und von ihrer Familie verstoßen wird.
Das Stück hat von seiner Aktualität nichts eingebüßt. Deshalb passt es zu den Gedanken Kleists, sie mit modernen Bildern und moderner Musik in die Gegenwart zu transferieren. Der Regisseurin gelingt es so, den vermeintlich alten Zeilen erschreckende, teils abstoßende Realität zu verleihen. Und den drei Schauspielern gelingt dieser Transfer nahezu perfekt. Mal als Nachspieler der Szenen, wie Kleist sie beschreibt, mal als Erzähler und Übersetzer rasen Martzelos, López und Rickert durch das Werk, über die Bühne, albern hier, leiden dort, tanzen, schütteln sich in Krämpfen, verunzieren den kalten Raum und sich selbst mit aggressiven Farben. Die Anleihe an die Bibelgeschichte von der unbefleckten Empfängnis ist durch eine angedeutete Kreuzigungsszene auch im Werk Kleists eine gewollte Provokation.
Die Geschichte ist nicht schön, sie hat mithin auch keine Anmut verdient. Selbst die Stärke, mit der die Marquise von O. ihr Schicksal in die Hand nimmt und ihren Peiniger per Zeitungsannonce sucht, um ihn zu ehelichen und die Schande zu lindern, verpufft. Denn ausgerechnet ihr Vergewaltiger, der russische Offizier Graf F., will die von ihm angebetete Marquise auf diesem Weg für sich gewinnen. Doch seine ehrenhafte Sühnetat wird mit kaltem Kalkül beantwortet. Aber er sagt unter schlechtestem Gewissen ja zu einer Ehe, die ihm nur Pflichten aufbürdet und keinerlei Rechte gewährt.
Auch an dieser Stelle harmonieren Inszenierung und Bühnenbild stark mit der Intention, die Kleist mit seiner Novelle verfolgt haben mag: Heuchelei, mehr Schein als Sein in der vermeintlich besseren Gesellschaft zu entlarven. Und auf der Bühne ist alles beschmiert, von wildem Farbgemisch verunziert, die Plastikwände sind eingerissen, die Kostüme und die Haut der ausgepumpten Schauspieler sind unter der Farbe kaum mehr zu erkennen – dieses Spiel hat keine Sieger, alle sind beschmutzt – die Marquise, ihr ebenso lüsterner wie unerbittlich moralischer Vater, die hinterlistige Mutter, Graf F. – Niederlage und Dreck überall. Und auch die Zeit heilt nicht alle Wunden.