Rainer Behr und das Land der Extreme

Der Tänzer spricht über Pina Bausch, die gemeinsame Zeit in Indien und das große London-Projekt 2012.

Herr Behr, im Januar sind Sie wieder in „Bamboo Blues“ im Opernhaus zu erleben. Pina Bausch hat die Hommage an Asien 2007 in Indien entwickelt. Sie waren damals unmittelbar dabei. Was bedeutet Ihnen das Stück heute?

Rainer Behr: Es ist ja eine Koproduktion mit Indien. Pina liebte das Land sehr. Sie hatte einen liebevollen Bezug zu Indien und dort auch Freunde. Wir haben uns alle darauf gefreut. Vor allem Pina empfand es als Ereignis, dort zu sein. Indien ist ja auch ein Ort, der viele Eindrücke vermittelt.

Wie ist das Stück — praktisch gesehen — entstanden?

Behr: Wir wurden eingeladen und haben die Gelegenheit gehabt, uns viel anzusehen: Zeremonien, Tempel, Waschungen im Fluss, Tänze und Kampfkünste. Wir waren zuerst in Kalkutta, einer unglaublichen Stadt. Danach ging es in den Süden — nach Kochi. Dort ist alles tropischer, grüner, ruhiger. Wir haben also zwei Extreme erlebt: die Vielfalt einer Großstadt und die Dörfer im Süden.

Was haben Sie ganz besonders in Erinnerung behalten?

Behr: Das ist schwer zu sagen. Indien ist ein Ort für alle Sinne. Das fängt bei der Nase an. Man riecht viel, man hört aber auch viel und man sieht auch viel. Man weiß gar nicht, wo man hinschauen soll, so viel passiert dort. Das alles haben wir versucht mitzuerleben und mitzuspüren.

Wie hat man sich das konkret vorzustellen?

Behr: Ein Stück über Indien zu machen, ist schwierig. Man kann sich eigentlich nur inspirieren lassen und fragen: Was spüren wir, was erleben wir? Pina und uns ging es nicht um die Frage „Wie ist der Inder?“ oder darum, den Inder auf die Bühne zu stellen. Wir selbst stehen auf der Bühne. Also ging es um die Frage: „Wie nehmen wir Indien wahr?“

Und wie haben Sie das Land wahrgenommen?

Behr: Man will ja immer das Schöne erleben, manches ist aber auch ekelhaft. Indien ist ein Ort voller Extreme. Es ist bezaubernd und reichhaltig. Es ist so viel da — von Wohlgerüchen bis zu ganz scheußlichen Gerüchen, von meditativer Stille bis zu grässlichem Getöse, von Ruhe bis zu einer unglaublichen Bewegtheit, von schönen Momenten bis zu hässlichen.

Was war denn hässlich?

Behr: Die unhygienischen Orte zum Beispiel. Da schluckt man ganz schön oft. Dort leben Menschen, zum Teil auch kranke. Tiere laufen durch die Straßen, alles bleibt wie immer. Komischerweise kann aber auch das, was auf den ersten Blick nur schmutzig erscheint, ästhetisch wirken und eine gewisse Schönheit haben. Das sind dann die schönen nicht-schönen Seiten Indiens. Das macht das Land so reizvoll. Denn nur das Schöne im Schönen zu finden, ist leicht. Gleichzeitig hat man aber auch das Gefühl, dem Ganzen oft nicht gerecht werden zu können. Am Ende ist es dann ein Hauch Indien — ein Tupfer von einer Farbpalette.

Wie war die Zusammenarbeit mit Pina Bausch in Indien?

Behr: Pina hat immer darauf geachtet, dass wir so nah wie möglich am Thema und an den Lebensumständen bleiben. Sie hat uns Fragen gestellt und wir haben — inspiriert von den ganzen Eindrücken — nach Antworten gesucht.

Was hat sich nach dem Tod von Pina Bausch verändert?

Behr: Es hat sich natürlich viel verändert. Pina ist nicht mehr da, wir müssen sie ersetzen. Das bedeutet auch, dass wir uns neu orientieren müssen.

Ist ein neues Gemeinschaftsgefühl entstanden?

Behr: Ja, das kann man sagen.

Im kommenden Jahr ruft London. „Bamboo Blues“ gehört zu den zehn Stücken, die das Wuppertaler Tanztheater bei der Cultural Olympiad (Kultur-Olympiade) präsentiert. Welche Erwartungen haben Sie?

Behr: Ich denke, dass das schön wird — weil es etwas ganz Besonderes wird. Es ist aber auch eine Menge Arbeit. Andererseits: Immer dann, wenn man große Herausforderungen zu bewältigen hat, weiß man wirklich, was man kann. Dann kann man zeigen, wer man ist. Zehn Stücke innerhalb einer so kurzen Zeitspanne zu zeigen, ist sicherlich nicht leicht — aber auch spannend. Und: Wir sind geübt, mit schwierigen Situationen umzugehen.

Inwiefern?

Behr: Wir haben gelernt, uns gut vorzubereiten. Bei Festivals haben wir schon oft — und komprimiert — verschiedene Stücke gezeigt, uns in den kurzen Pausen auch noch die Produktionen anderer Ensembles angeschaut. Das war am Ende wirklich ein Fest. Wenn man nicht gefordert wird, bleibt man hinter sich und seinen Möglichkeiten zurück.

Sie inszenieren auch selbst. Ist das ein Ausgleich, eine Ergänzung oder gar ein neuer Schritt?

Behr: Tanzen, also auf der Bühne zu sein, und ein Stück zu machen — das gehört für mich zusammen. Das kam auch bei Pina immer zusammen. Deshalb bin ich auch nach Wuppertal gekommen: Ich wollte zu Pina, um etwas zu lernen. Ich hatte schon vorher Stücke gemacht. Bei Pina war es dann so, dass wir die Möglichkeit hatten, die Tänze mitzugestalten. Wir haben sie zusammen entwickelt.

Und nun choreographieren Sie auch wieder selbst?

Behr: Ja, ich hatte eine Zeit lang keine Zeit dafür, jetzt nehme ich sie mir. Zurzeit arbeite ich in Bielefeld. „Herbstzeitlose“ soll das Stück heißen — und am 20. Januar im Theaterlabor Premiere haben.

Kurz danach stehen Sie wieder selbst auf der Bühne — in „Bamboo Blues“. Gibt es eine Lieblingsszene?

Behr: Ehrlich gesagt: Ich tue mich schwer damit, das zu beantworten. Aus meiner Sicht geht es nicht um mich, sondern um das Stück. Ich denke gerade: Was würde Pina noch sagen? Sie hat immer mit wenigen Worten die richtigen gefunden.

Aber bei „Bamboo Blues“ geht es ja nicht zuletzt darum, was die Tänzer empfinden und wie sie Indien wahrnehmen . . .

Behr: Das stimmt. Ich denke, dass anderes wichtig ist. Die Arbeit — das Stück — steht im Zentrum. Eigentlich haben wir unser Leben immer um die Stücke gewebt.

Welches Fazit gibt es — so gesehen — mit Blick auf „Bamboo Blues“?

Behr: Einzelne Kritiker haben nach der Uraufführung gefragt: Was hat dies oder jenes mit Indien zu tun? Ich denke, man sollte es so sehen: Alles, was fehlt, sollte man für sich selbst ergänzen — und den Rest sollte man in Dankbarkeit annehmen. Das machte Pina aus: dass sie sich den Sachen immer nur rein genähert hat. Es ging ihr immer um Sehnsüchte, Liebe, Gefühle — darum, den Menschen ganz nah zu sein. Wenn man ihre Stücke anschaut, sollte man das nicht vergessen.