Pina Bausch lehrt das Liebesspiel

Die Gefühle und die Geschlechter spielen verrückt: Das Tanztheater erzählt die „Keuschheitslegende“ im Schauspielhaus.

Wuppertal. Die Waffen der Frauen sind verzückend, die der Männer geladen. Oder anders gesagt: Während die einen mit verstohlenen Augen-Blicken locken, lassen die anderen Tatsachen sprechen.

Wer vorne sitzt, bekommt das hautnah zu spüren: Dass Pascal Merighi genüsslich mit einer Wasserpistole auf sein Publikum zielt, ist ein nassforscher Akt und damit alles andere als eine Legende. Auch wenn der Titel das Reich der Sagen berührt: Feucht-fröhlich geht es zu, wenn Pina Bausch die "Keuschheitslegende" erzählt. So bleibt (in den hinteren Reihen) kein Auge trocken, wenn es Zuschauer (in den vorderen Sitzen) trifft.

Verspielt sind aber nicht nur die Herren der Schöpfung. Auch die Damen, die in verr(a)uchter Atmosphäre den Po kreisen lassen, tragen zur allgemeinen (Gefühls-)Verwirrung bei. Sie lassen sich von ihren Mittänzern großherzig unter den Rock schauen, springen vergnügt auf Sessel oder räkeln sich wie laszive "Meerjungfrauen" auf dem blauen Bühnenboden - um dem Publikum im Schauspielhaus buchstäblich einen Spiegel vorzuhalten.

Mit plüschigen Canapés, viel Charme und reichlich Spiegeln lädt das Wuppertaler Tanztheater zur Selbstreflexion ein.

Das ist mitreißend, zeitlos und ein klarer Beweis dafür, dass Gefühle immer wieder verrückt spielen können. Das gilt heute genauso wie vor 28 Jahren: Fast drei Jahrzehnte nach seiner Uraufführung hat eines der komischsten Stück von Pina Bausch nichts von seinem Zauber verloren.

Hinter den ironischen Nummern stecken nach wie vor ernst gemeinte Fragen. Kann, muss oder soll man sich Keuschheit antrainieren? Dürfen nur Kinder neugierig sein - und Erwachsene nicht mehr das Leben erforschen?

Was passiert, wenn nur hinter vorgehaltener Hand über Pikantes gesprochen wird, wenn die eigenen Bedürfnisse unterdrückt werden, sexuelle Normen und anerzogene Ängste den Alltag bestimmen, zeigt das Ensemble in entlarvender Parallelität. Mechthild Großmann gibt den Rhythmus vor: Sie liest theoretisch vor, was praktisch umzusetzen ist.

Ihr Aufruf zum Stellungstest ist eine bitter-süße Anleitung zum Liebesspiel: Mehr oder weniger verklemmt sind die Paare, die den körperlichen Akt auf jeweils einem Sofa in viele Einzelteile zerlegen. Der pure Mechanismus ersetzt jedes Gefühl.

Auch Rainer Behr zeigt die Kluft zwischen gesellschaftlichem Schein und persönlichem Sein. Er führt das Bild vom starken Mann ad absurdum: "Ich brech die Herzen der stolzesten Frauen", sagt er - mit schnellem Atem und hilflosem Blick. So ist er kein selbstbewusster Aufreißer, sondern nur ein überfordertes Manns-Bild.

Wo derart gebusselt, gebalzt und begattet wird, darf die Tier-Symbolik nicht fehlen: Fleischliche Gelüste haben auch Krokodile, also füttert Regina Advento fünf entsprechende Attrappen.

Was aber wäre das alles ohne die menschliche Note? Dass sie Großmann auch nach 28 Jahren wieder beisteuert, ist ein Gewinn, denn die Frau mit der tiefen Reibeisenstimme kann lyrische Texte aufsagen, dass sie einem vorkommen wie obszöne Gossensprüche.

Überhaupt wird mehr Theater als Tanz geboten. Aber wenn es ihn gibt, dann in großartigen Ensembleszenen. Dabei ist der Schluss des ersten zugleich der Anfang des zweiten Teils. Alle tanzen gemeinsam, ziehen doppelt und dreifach übergestreifte Kleidung aus und wirbeln sie durch die Luft. Eleganter kann ein "Striptease" nicht sein.

Wahrhaft reizend ist auch der Rollentausch mit Spaziergangsposen. Frauen fassen sich selbstbewusst zwischen die Beine, Männer streichen sich schüchtern durch die Haare und spreizen die Finger. Kein Wunder, dass sie weibliche Augen-Blicke nachahmen. Die Waffen der Frauen sind eben verzückend - und jede Wiederholung wert.