Kolumne des Freien Netzwerks Kultur Kulturarbeit im Hier und Jetzt

Wuppertal · Zuweilen machen Krieg und Pandemie es schwer, sich auf die Kunst einzulassen; wenn wir schon dafür zahlen, wollen wir doch das Schöne sehen und hören. Doch jede Katastrophe nah und fern muss erzählt sein, um begreifbar zu werden.

Foto: WZ/Ritter, Andreas

Sie waren kaum zu glauben, diese Ostertage, für viele wohl im Wortsinne traumhaft: Vom Wetter her komfortabel, virenmäßig entspannt und rundherum eine kurze irreale Reise ins Vergessen. Nur wer dennoch hinhören wollte, vernahm das Donnergrollen hinterm Horizont. Beim Sichten des Altpapiers blätterte ich durch Satirezeitschriften vor 1918 und sah dicke Männer, mit bissigem Strich gezeichnet, beim Schweinsbratenschlachtenn und Frontlinien diskutieren und Zinnsoldaten durch die Stuben schieben; Szenen, die seit Kindertagen vertraut, aber fremd waren, bis ich zunehmend begann, selbst die Situationskarten der Tagesnachrichten zu lesen. Kurz darauf – an der Arbeit für das Arrenberger Quartiersarchiv – scannte ich ein Foto von der „Breiten Straße“ (heute Tannenbergstraße) und las, dass jener Sieg 1914 gar nicht bei Tannenberg stattfand und der Name nur eine Niederlage des Deutschen Ordens anno 1410 überschreiben soll. Der Name ist also Nationalmarketing mit kriegsverherrlichendem Vibrato und ein Beispiel von vielen. Natürlich hat Wuppertal auch eine Vielzahl „guter“ Straßennamen, die von Menschlichkeit, Mut und Fortschritt berichten – wenn wir es denn wüssten. Unser Wegenetz besteht aus einer vielschichtigen Erzählung, die wir benutzen, aber meist gar nicht gelesen haben. Im funktionalen Alltag benötigen wir sie nicht, doch als ein barrierefrei verfügbares Enzym von Kultur und Bewusstsein vernachlässigen wir diesen Index der Stadt allzu sehr.

Dieser Tage dreht sich vieles um die Buga, doch noch zwei Jahre vorher findet möglicherweise das Stadtjubiläum statt. Zu „Wuppertal 2029“ sollte einige Kulturleistung zu erwarten sein. Die „kleine“ Kulturarbeit dazu beginnt nicht in Großkonzepten, sondern im Privaten gleich vor der Haustür, mitsamt dem Schlamassel heutiger und kommender Tage, dem dystopischen Dreiklang Krieg, Klima, Pandemie.

Zuweilen macht er es schwer, sich auf die Kunst einzulassen; wenn wir schon dafür zahlen, wollen wir doch das Schöne sehen und hören. Doch jede Katastrophe nah und fern muss erzählt sein, um begreifbar zu werden.

Ein gutes Beispiel ist das so simple wie vielsagende Mahnmal für die Legion der in Not Ertrunkenen der letzten Jahre, das der Verein „Seebrücke Wuppertal“ derzeit gegen das Vergessen der Gegenwart vor dem Mirker Bahnhof platziert. Es wird die Kinder fragen lassen, und jede Frage schreibt Geschichte und ist Arbeit am Frieden, so hypothetisch dieser ist. Auch in Schreibwerkstätten, Kursen und Kunstseminaren geht es derzeit oft um Schrecken, Leid und Ahnungen des noch nicht Vorstellbaren.

Wer die Kunst rein als Vergnügung sieht, mag da nicht einstimmen, doch viele Neubewohner unserer Stadt haben in mehreren Kriegen erfahren, dass jedes private Glück brennbar ist. Sie suchen dafür Worte, in ihrer und unserer Sprache. Doch die Wege, uns daran teilhaben zu lassen, sind allzu schmal: Lesungen und Publikationen, auch in Zeitungen und Zeitschriften, werden kaum stattfinden und vergessen sein, sobald die Ölregale wieder aufgefüllt sind. Zu Beginn des Balkankriegs brachten Ivica Vanja Roric und Simo Esic den Buchverlag „Das bosnische Wort“ aus Sarajevo nach Wuppertal; er blieb hier nahezu unbekannt.

Es naht der 1. Mai, der Tag der Arbeit; abermals ein besonderer. Inmitten kaum zu bewältigender Zukunftsaufgaben klingt die Frage „Wofür arbeiten?“ Solidarisch sein heißt, den anderen verbunden zu bleiben. Arbeit ist Kultur, wie Kunst Arbeit ist. Zeigen wir es, im großen Wurf wie im kleinen Schritt, gleich vor der Tür.

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