Politische Runde Von Elberfeld in die Welt: Wuppertals Einfluss auf die Aspirin-Erfindung

Wuppertal · Die politische Runde stellt Arthur Eichengrün, einen Wegbereiter des Aspirins, vor.

Für die szenischen Lesung seines Buches über Arthur Eichengrün reiste Ulrich Chaussy (links) aus München an. Jan Niko Kirschbaum von der Bergischen VHS leitete diese "Politische Runde".

Foto: Kevin Bertelt

Aspirin senkt Fieber und stillt Schmerzen. Gute Gründe, um in keinem Arzneischrank zu fehlen. Vor gut 100 Jahren trat es von Elberfeld aus seinen Siegeszug um die Welt an, Doch wer hat das Medikament erfunden? Die offizielle Unternehmensgeschichte der Bayer AG nennt den Namen Felix Hoffmann.

Ein anderer Wegbereiter des Aspirins ist dagegen in Vergessenheit geraten: Arthur Eichengrün (1867-1949). In Kaiserzeit und Weimarer Republik macht der Chemiker Karriere und entwickelt neben Medikamenten unbrennbare Kunststoffe und biegsame Schallplatten. Die Nazis zerstören Eichengrüns Existenz. Als Jude verliert er Firma und Besitz und überlebt nur knapp das KZ Theresienstadt.

„Dem Mann, der alles erfinden konnte“ hat Ulrich Chaussy eine Biografie gewidmet. Der vielfach ausgezeichnete Journalist war am Montag zu Gast bei der Politischen Runde. Im Forum der Bergischen VHS las er aus seinem 2023 erschienenen Buch, eine Leinwand-Präsentation bebilderte die Stationen eines bewegten Lebens.

Auf Eichengrüns Spuren stieß der Münchner Chaussy zuerst im südlichsten Zipfel Deutschlands. Ende der Achtzigerjahre recherchierte er über das Dorf Obersalzberg, Wohnort und zweiten Regierungssitz Hitlers – und erfuhr von Zeitzeugen, dass dort auch der jüdische Chemiker lange sein Sommerdomizil hatte. „Ich blieb einfach hängen an dieser unglaublichen Geschichte“, sagte der Autor.

„Die haben mich ganz

frei arbeiten lassen“

Im Gespräch mit Chaussy legte Moderator Jan Kirschbaum den Fokus auf den „Wirtschaftskrimi“ rund um das Aspirin, der um 1900 in den Laboren der Elberfelder Bayer-Werke begann. Für die Rekonstruktion der Ereignisse konnte der Journalist das Unternehmensarchiv auswerten: „Die haben mich ganz frei arbeiten lassen.“

Aus den Quellen ergibt sich folgendes Bild: Während Eichengrün für die Weiterentwicklung des Wirkstoffs Acetylsalicylsäure zum Medikament eintritt, ist sein Kollege Heinrich Dreser skeptisch wegen möglicher Nebenwirkungen. „Die beiden konnten einander nicht riechen“, so Chaussy. Dresers sitzt am längeren Hebel: Nur Wirkstoffe, die sein Labor passieren, dürfen klinisch erprobt werden.

Nach der Ablehnung handelt Eichengrün auf eigene Faust. Durch Vermittlung des Bayer-Repräsentanten in Berlin findet er Ärzte, die den Wirkstoff ihren Patienten verabreichen. Mit diesem Alleingang habe der Chemiker nicht nur gegen seinen Arbeitsvertrag verstoßen, sondern auch medizinethisch bedenklich gehandelt, kommentierte sein Biograf. Zum Glück für alle Beteiligten bewährt sich Acetylsalicylsäure. Nach durchweg positiven Ergebnissen kann Eichengrün auch seinen Vorgesetzten Carl Duisberg überzeugen. In der Folge verfasst Dreser einen Bericht über die Neuheit Aspirin, in dem er weder Eichengrün noch Felix Hoffmann erwähnt. Dreser ist denn auch der Einzige, der Tantiemen für das Medikament erhält. Später schreibt er die Entdeckung des Wirkstoffs ausschließlich Hoffmann zu.

Briefe aus dem Bayer-Archiv belegen, dass der Streit um den wahren Erfinder 1948 wieder aufflammt. In einem Schreiben pocht der Holocaust-Überlebende auf seinen geistigen Anteil an der Entwicklung des Medikaments. Die Verantwortlichen bieten einen Kompromiss an: Hoffmanns chemische Darstellung des Wirkstoffs gehe auf „Anregung von Dr. A. Eichengrün“ zurück. Darauf kann der ein Jahr später verstorbene Eichengrün nicht mehr reagieren: Das Schreiben mit der Kompromissformel wird zurückgehalten. Im Unternehmen fürchtet man, der ehemalige Mitarbeiter könne „Ansprüche“ am Erfolgsprodukt geltend machen.