Tabu-Thema bei der VHS in Wuppertal „Die meisten Suizide werden angekündigt“
Wuppertal · Ein Tabu-Thema? Zum Welttag der Suizidprävention hat die Leiterin der Telefonseelsorge in Wuppertal aufgeklärt.
Dass das Thema „Suizid“ ein sensibles ist, macht schon die Übersetzung des Fremdworts ins Deutsche deutlich. So werde die – etymologisch zutreffende – Bezeichnung „Selbstmord“ unter Fachleuten und der informierten Öffentlichkeit nicht verwendet, da der Begriff „Mord“ abwertend sei und ein planvolles Handeln voraussetze, sagte die Leiterin der Ökumenischen Telefonseelsorge Wuppertal, Jula Heckel-Korsten, am Dienstagabend in der VHS Wuppertal bei einer Info-Veranstaltung zum Welttag der Suizidprävention. Auch der Begriff „Freitod“ sei unangemessen, weil er ignoriere, dass die Ursache des Suizids möglicherweise eine psychische Erkrankung war. Deshalb sei es zutreffend, den Begriff „Selbsttötung“ zu nutzen, betonte Pfarrerin Heckel-Korsten.
Ein Blick auf die Zahlen lehrt zugleich, dass das Thema „Selbsttötung“ eine hohe Relevanz hat. So hätten sich im vergangenen Jahr 10 304 Menschen in Deutschland selbst umgebracht, das sei die höchste Zahl seit dem Jahr 1995 gewesen, betonte die Leiterin der Telefonseelsorge Wuppertal. Diese Zahl sei „erschreckend“, gestand Heckel-Korsten. Im Vergleich zur Bekämpfung von tödlichen Verkehrsunfällen oder der Unterstützung für Drogensüchtige sei in der Suizidprävention „bisher sehr wenig passiert“. Dabei sei eine Vielzahl der Selbsttötungen zu verhindern, da „die meisten Suizide angekündigt werden“.
Personen, die Suizidgedanken haben, seien Menschen, die „erhört werden möchten“. Deshalb sei es so wichtig, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und „eine Kultur des Zuhörens und des Verstehens“ möglich zu machen. Dabei sollte es der Telefonseelsorger aber unterlassen, dem Anrufer eine vermeintliche Lösung präsentieren zu wollen.
Aus polizeilicher Sicht blickte der frühere Kripo-Beamte Martin Kieczka auf das Thema. Bei etwa 15 Prozent aller Sterbefälle im Bergischen Städtedreieck schalteten sich die Polizei und die Staatsanwaltschaft ein, weil der Tod durch sogenanntes Fremdverschulden verursacht sein könnte, sagte er. Derzeit würden vom Polizeipräsidium Wuppertal rund 1600 Todesermittlungen pro Jahr durchgeführt. Kann der die Leiche untersuchende Arzt vor Ort keine natürliche Todesursache feststellen, muss der Tote beschlagnahmt und gegebenenfalls von der Gerichtsmedizin weiter untersucht werden.
Kieczka, der lange Jahre im Kriminalkommissariat für Kapitaldelikte gearbeitet hatte, räumte ein, dass ein solches Vorgehen für Angehörige, die gerade einen ihnen nahestehenden Menschen verloren haben, nicht immer leicht zu verstehen sei. Aber bei einer Selbsttötung müsse eben ausgeschlossen werden, dass bei dem Suizid „jemand mitgewirkt“ hat. Laut dem pensionierten Kripo-Beamten hatte es im vergangenen Jahr 66 Selbsttötungen im Bergischen Städtedreieck gegeben, 2014 waren es 79 gewesen. In Wuppertal wurden 2023 insgesamt 42 Suizide registriert, 2014 hatte die Zahl bei 39 gelegen.
Laut dem Ärztlichen Direktor der Evangelischen Stiftung Tannenhof, Dr. Eugen Davids, haben Männer bei den Selbsttötungen ein klares Übergewicht – das Verhältnis zwischen Männern und Frauen liegt bei etwa drei Viertel zu einem Viertel. Bei der Zahl der Suizidversuche bestehe dann allerdings eine Mehrheit bei den Frauen. Je 100 000 Einwohner gebe es in Deutschland – statistisch gesehen – 12,1 Suizide. Allerdings bestehe in diesem Feld eine hohe Dunkelziffer.
Die Ursachen für einen Suizid oder einen Suizidversuch seien oft „multifaktoriell“, betonte Davids. „Es ist für die Psychatrie kein eindeutiges Modell eruierbar.“ Die Risikofaktoren für Suizidalität könnten altersbedingt sein, aufgrund einer chronischen körperlichen Erkrankung entstehen, mit Arbeitslosigkeit oder Vereinsamung zusammenhängen oder auch durch belastende Lebensumstände entstehen. In der großen Mehrzahl der Fälle gebe es allerdings einen klinischen Hintergrund: „90 Prozent aller Suizide haben mit psychischen Erkrankungen zu tun.“
Mit Verweis auf das sogenannte Pöldinger-Modell sprach Davids von drei Phasen, die ein Suizidierender durchläuft: die Erwägungsphase, die Ambivalenzphase und die Entschlussphase. Auffällig sei, dass Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen möchten, etwa vier Wochen vor dem Suizidversuch noch einmal „Kontakt zum Hilfesystem“ – etwa Ärzten, Psychologen, Beratungseinrichtungen oder der Kirche – suchten, sagte der Ärztliche Direktor. Die Kunst bestehe für Angehörige und Experten nun darin, diese Phase zu erkennen und dem Ratsuchenden zur Seite zu stehen.
Rund um die Uhr sind Mitarbeiter der Telefon-Seelsorge für die Anrufer da. Erreichbar ist die Telefon-Seelsorge unter 0800/111 0 111 oder 0800 111 0 222. Auf telefonseelsorge-wuppertal.de gibt es auch die Möglichkeit, über Chat zu kommunizieren.