Interview Jürgen Hardt: „Mir gehen nachts mehr Dinge durch den Kopf, als es früher der Fall war“

Wuppertal · CDU-Bundestagsabgeordneter Jürgen Hardt über Krisen, Windkraft im Bergischen und wie sich Kommunikation in der Politik verändert

An einem seiner Lieblingsplätze, dem Elisenturm, sprach Jürgen Hardt (CDU) mit der WZ über seine Halbzeitbilanz im Bundestag.

Foto: Andreas Fischer

Seit zwei Jahren bildet eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP die Bundesregierung, die CDU ist nach 16 Jahren Kanzlerschaft durch Angela Merkel gezwungen, Politik aus der Opposition zu machen. Jürgen Hardt ist seit 2009 CDU-Bundestagsabgeordneter. Sein Wahlkreis umfasst Solingen, Remscheid und für Wuppertal die Stadtteile Ronsdorf und Cronenberg. Als außenpolitischer Sprecher ist er vor allem in der aktuellen Legislaturperiode mit Themen konfrontiert, die weit über die Bundespolitik hinausgehen. Die WZ hat mit dem 60-Jährigen über seine Halbzeitbilanz gesprochen.

Herr Hardt, mit Corona, dem Ukraine-Krieg und den Folgen des Klimawandels sind Themen mit verstärkter Relevanz aufgetreten, die sich nicht nur auf Deutschland beschränken. Die internationale Sichtweise gehört zu Ihren Schwerpunkten. Sind das neue Dimensionen?

Jürgen Hardt: Jede meiner vier Legislaturperioden hatte bislang Themen, von denen sich manche kaum vorhersagen ließen: Als ich 2009 in den Bundestag kam, folgte auf die Finanzkrise der Rettungsschirm für den Euro, während der Regierungszeit von 2013 bis 2017 entstand der Ansturm von Flüchtlingen, danach kam die Pandemie und nun der russische Krieg gegen die Ukraine. Die Auswirkung internationaler Umstände für Deutschland ist viel größer geworden.

Wie ändert das den politischen Alltag?

Hardt: Die Themen sind globaler, der Rhythmus ist härter. Das führt zu längeren Sitzungen und stärkeren Debatten. Die Erfordernisse sieht man auch anhand der Entschlüsse und Gesetze, die der Bundestag bearbeitet. Die dazugehörigen Drucksachen erreichen bereits nach zwei Jahren mehr als 10 000 Aufträge. Außerdem sind mittlerweile sechs Fraktionen vertreten, was die Zusammenarbeit komplexer macht, denn dadurch herrscht zwischen den Parteien eine Stimmung wie auf dem Basar: Wenn ich dir was geben soll, musst du mir auch was geben.

Wie wollen Sie sich denn mit der AfD arrangieren?

Hardt: Früher hatte man zu allen Abgeordneten ein kollegiales Verhältnis, die Existenz der AfD hat das verändert. Es gibt keine Berührungspunkte zwischen uns und denen, der Umgang spielt keine große Rolle mehr.

Hat sich auch die Art der Kommunikation gewandelt?

Hardt: Manche sagen, in den 70er-Jahren sei der Bundestag spannender und der Ton polemischer gewesen. Damals hat einmal im Monat mindestens ein Politiker Äußerungen getätigt, die ihn heute dazu verpflichten würden, seinen Rücktritt einzureichen – zumal über die Sozialen Medien einzelne Aussagen aus dem Kontext gerissen werden und den Betroffenen jahrelang nachgehen können. Außerdem hat sich die Gegenwärtigkeit von Ereignissen verschärft: Während seinerzeit auch in der Berichterstattung der nächste Tag die Zielmarke war, muss man sich heute oft schon nach zwei Stunden äußern.

Dazu gehören auch die Geschehnisse, die den Krieg Putins gegen die Ukraine prägen. Welche Intentionen stehen nach Ihrer Einschätzung dahinter – Macht und Vernichtung?

Hardt: Aus Sicht Putins ist der Krieg ein großer Test, ob die Nato und der Westen stark genug sind, einer völkerrechtswidrigen Aggression zu widerstehen. Und wie weit er gehen kann, um Russland wieder in den Grenzen darzustellen, wie sie zu Zeiten der Sowjetunion bestanden haben. Dieses Ziel will er mit Waffengewalt erreichen und könnte sich unter anderem auch auf Georgien und Moldau ausweiten.

Wie sehr belastet Sie das?

Hardt: Es gibt mehr Dinge, die mir nachts durch den Kopf gehen, als es früher der Fall war. Die Herausforderungen durch nicht-demokratische Politiker mit imperialistischen Zielen sind etwas, was ich in den 90er-Jahren für überwunden geglaubt habe, und erinnert an die Denkmuster der Nationalsozialisten.

Die Angst der Menschen in Europa war zu Beginn des Ukraine-Krieges größer als jetzt, obwohl er nach wie vor ausufert. Woran liegt das?

Hardt: Offensichtlich beruhigt es uns etwas, dass Putin keinen Erfolg hat. Und es gibt aus seiner Sicht durchaus Möglichkeiten, sich aus dem Krieg zu verabschieden, ohne ihn gewonnen zu haben und das Gesicht zu wahren. Ob der Krieg in wenigen Monaten vorbei ist, hängt aber auch vom Erfolg der Ukraine ab. Deshalb wäre es gut gewesen, wenn die Bundesrepublik viel früher mehr schwere Waffen geliefert hätte.

Eine andere Form der Verunsicherung spielte sich in Großbritannien ab: 2022 trat Premierminister Boris Johnson zurück, Liz Truss wurde Nachfolgerin und schon einen Monat später durch Rishi Sunak ersetzt. Gerade hat auch der niederländische Premier Mark Rutte seinen Rücktritt erklärt. Ist das ein Trend, Pflichtvergessenheit zu beweisen?

Hardt: In Europa gibt es führende Politiker, die ihr Amt nicht als Lebenskonzept ansehen. Das gilt übrigens auch für Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Bundesminister und Kanzler in Deutschland haben oft eine andere Grundlage, weil viele von ihnen über langjährige Erfahrungen beispielsweise in der Landespolitik verfügen.

Sind sie deswegen die besseren Politiker?

Hardt: In der Politik erfolgreicher sind die Technokraten, also Leute, die an pragmatischen Lösungen arbeiten. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung beeindrucken dagegen charismatische Persönlichkeiten wie einst Konrad Adenauer oder Helmut Schmidt. Die Politik der Gegenwart erfordert aber den sachbezogenen Typus. Angela Merkel hat auf diese Weise richtige Entscheidungen getroffen und dabei nicht gewollt, dass man zu ihr aufschaut.

Schauspieler Orson Welles hat gesagt: „Viele Menschen sind gut erzogen, um nicht mit vollem Mund zu sprechen, aber sie haben keine Bedenken, es mit leerem Kopf zu tun.“ Wie reagieren Sie auf unbedachte Äußerungen in den Sozialen Medien? Schließlich nutzen Sie mittlerweile auch Instagram, um Botschaften zu verbreiten.

Hardt: Ich nutze die Sozialen Medien nicht, um dialogisch vorzugehen, sondern bevorzuge dafür den direkten Kontakt mit den Bürgern und darüber hinaus E-Mails und Briefe, weil ich dann weiß, um wen es sich handelt. Aber es ist schon ein Unterschied, ob man seine Meinung am Stammtisch oder in den Sozialen Netzwerken preisgibt. Dabei sollte man immer auch schauen, um welche Uhrzeit solche Äußerungen gemacht wurden. Da gibt es durchaus Gegensätze zwischen Tag und Nacht.

Nachdem sich 2018 die Protestbewegung „Fridays for Future“ bildete, löste der Klimawandel immer mehr missionarische Einsätze aus. Wie realistisch ist es für die Politik, das Problem zu lösen?

Hardt: Ich habe Schüler getroffen, die sagen: Warum soll ich Abitur machen, die Welt geht doch sowieso unter? Umweltprobleme können wir gemeinsam in den Griff kriegen. Eine CO2-Neutralität bis 2030 zu erreichen, halte ich für illusorisch, aber bis 2045 für denkbar. Dabei geht es aber vorrangig nicht darum, dass wir zwanzig Windräder im Bergischen Land aufstellen. Denn wenn China jedes Jahr so viel CO2 zusätzlich ausstößt, wie wir reduzieren könnten – und das mit der Herstellung von Produkten, mit denen wir in Deutschland Geschäfte machen –, müssen wir über solche Widersprüche reden, um das Weltklima zu schützen.

Welchen Blick haben Sie auf die bergischen Städte, die Ihren Wahlkreis bilden? Viele Kommunen mussten über Jahre Kredite aufnehmen, um ihre Ausgaben zu decken, deshalb wird auch hier über Lösungen für die Altschulden diskutiert.

Hardt: Die schwarz-grüne Landesregierung hat sich bereit erklärt, die Hälfte der Schulden und Zinsverpflichtungen in den Landeshaushalt zu übernehmen und damit den Kommunalhaushalt zu entlasten. Das soll zum Teil dadurch gegenfinanziert werden, dass Kommunen auf einen Anteil der Grunderwerbsteuer verzichten, den sie im Augenblick bekommen.

Der zweite Teil der Legislaturperiode beginnt im September. Was erhoffen Sie sich von den nächsten zwei Jahren?

Hardt: Dass wir die Geschlossenheit bewahren, die wir in der EU und in der Nato in den letzten zwei Jahren hinzugewonnen haben. Und dass die Bundesregierung zu einem stärker sachorientierten Stil zurückfindet. Sonst halte ich es für möglich, dass wir bereits vor Ende der Legislaturperiode im Jahr 2025 Neuwahlen erleben werden.

(mag)