Der Alltag Wuppertalerin berichtet von ihrer Kindheit an der Hünefeldstraße – Teil 2

Wuppertal · Wie ein Graf Sturm und Regen trotzen.

Vater Willy erzählte seinen Kindern fantastische und unheimliche Geschichten.

Foto: Barbara Remmel-Gortat

Da wir so beengt wohnten, nutzte Papa jede Gelegenheit, mit uns spazieren zu gehen. Papa war noch arbeitslos und genoss die Zeit nach den schweren Kriegserlebnissen mit seinen kleinen Kindern. Ich erinnere mich noch mit Schrecken daran, dass Papa manchmal nachts, von Alpträumen geplagt, aufschrie und lange brauchte, bis er sich wieder beruhigen konnte. Wir haben ihn dann alle umarmt.

Nach unserem Mittagessen durfte Mama sich ausruhen und wir gingen bei jedem Wetter mit Papa, an jeder Hand ein Kind, an die frische Luft. Wir spazierten den steilen Berg zur Hardt hinauf, am Bismarckturm vorbei bis auf den großen Spielplatz mit der langen Holzrutsche. Die gibt es leider schon lange nicht mehr. Wir spazierten zum Schönebecker Busch, zu den Barmer Anlagen und in den Kothener Wald. So hatten wir Kinder viel Bewegung und Papa lernte seine neue Heimat kennen.

Wenn wir bei schlechtem Wetter keine Lust zu laufen hatten, sagte Papa uns ein Gedicht auf, das mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist und das ich auch meinen Kindern später zitierte, wenn sie nicht laufen wollten. Ich weiß nicht, ob Papa es selbst gereimt hat oder ob es irgendeine andere Quelle gibt, die ich nicht gefunden habe. Es ging so:

Barbara Remmel-Gortat.

Foto: Anna Schwartz/ANNA SCHWARTZ

„Zu Limburg auf der Veste/da wohnt ein edler Graf/den keiner seiner Gäste/jemals zu Hause traf./Er trieb sich aller Wegen/Gebirg` und Straß`entlang/kein Sturm und auch kein Regen/verleidet ihm den Gang.“

Wenn wir maulten, brauchte Papa nur anzufangen: „zu Limburg…“ und wir waren still und irgendwie stolz, dass wir als kleine Kinder wie ein Graf dem Sturm und Regen trotzen konnten. Bei meinen Kindern funktionierte es dann später aber nicht ganz so gut.

Manchmal liefen wir am Hardtufer entlang bis nach Elberfeld und schnupperten Stadtluft. Wir gingen über den Neumarkt. Es gab damals noch unterirdische Bunker, in denen Familien untergebracht waren. Ein kleiner, sehr blasser Junge kam uns entgegen. Papa schenkte ihm eine Rolle Vivil Pfefferminz, die er immer bei sich hatte, und 10 Pfennig. Er wies uns darauf hin, wie schlecht es diesen Familien im Gegensatz zu uns ging. Es gab in ihren Unterkünften kein Tageslicht, deshalb sei der Junge so blass. Wir waren froh und dankbar, dass wir ein sonniges Zimmer mit zwei Fenstern hatten.

Wir gingen auch zu Fuß in die Barmer Innenstadt und besahen uns die Schaufenster der Spielzeugläden, die früher ganz aufwendig mit mechanischem Spielzeug dekoriert waren.

Am schönsten war es im Advent in den zahlreichen Schaufenstern des Kaufhofs. Es waren ganze Märchenszenen aufgebaut, von Schneewittchen und den sieben Zwergen bis zum gestiefelten Kater. Wir drückten uns die Nasen platt und konnten uns nicht sattsehen. Jedes Fenster war anders, mal mit Puppen, mal mit Steiff-Tieren dekoriert, aber auch Autos und Dampfloks waren zu sehen, ganze Landschaften aufgebaut. Wir hatten aber nie den Wunsch verspürt, diese Dinge zu besitzen, wir haben sie nur bewundert, wie in einem Museum.

Mama blieb gern zu Hause und ruhte sich aus. Sie war eine sehr engagierte und eifrige Katholikin und ehrenamtlich in der Herz-Jesu-Kirche auf der anderen Straßenseite tätig. So half sie auch beim Reinigen der Kirche. Dadurch fiel sie dem Pastor und den Nonnen aus dem „Klösterchen“ links neben der Kirche auf.

Erfundene Abenteuer mit unseren Puppen und Teddys

Man wusste, dass Papa arbeitslos war und wir wenig Geld hatten. Wir bekamen sehr viel geschenkt von sogenannten „reichen“ Leuten, mal brachte Mama mir einen wunderschönen Puppenwagen mit, mal ein riesiges Puppenbett aus weiß lackiertem Eisen mit Messingkugeln, mit einer Matratze und einer ganzen Bettausstattung mit Seidendecken und Kissen. Darin lag eine große, weiß gekleidete Porzellankopfpuppe mit Echthaarzöpfen. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Ich kannte nur Schildkröt-Puppen aus Zelluloid. Auch einen Kaufladen mit vielen Schubladen und Beleuchtung bekamen wir geschenkt. Es waren Päckchen und Döschen darin und die Schubladen wurden mit buntem Puffreis gefüllt. Ich habe mit meinem Bruder stundenlang Verkaufen gespielt.

Wir konnten aber auch mit einfachen Sachen spielen. Mama legte uns eine Decke über unseren Tisch und wir hatten eine Bude. Wir erlebten erfundene Abenteuer mit unseren Puppen und Teddys. Oder wir spielten Mutter und Kind. Mein Bruder war Frau Blaumeier und ich war Frau Quinkler und wir „tranken Kaffee“ und „erzogen“ unsere Kinderschar. Unsere Eltern haben sich sehr über unsere Fantasie und unsere Rollenspiele amüsiert.

Doch am schönsten war es abends. Um sieben Uhr mussten wir zu Bett und Papa setzte sich zu uns, mein Bruder und ich hielten jeder eine Hand und dann versanken wir in eine Märchenwelt, denn Papa las nicht einfach vor, sondern erzählte aus dem Stegreif frei. Zuerst lernten wir die Grimm‘schen Märchen kennen, später kamen Gruselgeschichten dazu. Es waren aber keine „normalen“ Kindergeschichten, sondern es waren in Anlehnung an Papas Vorlieben Geschichten von E.T.H. Hoffmann, der heute fast in Vergessenheit geraten ist. Es handelte sich um fantastische, aber auch sehr unheimliche Geschichten, sie waren eigentlich noch nichts für uns, aber Papa versuchte sie uns etwas abgeschwächt zu erzählen.

Der Hauptakteur in Papas Wiedergabe war ein gewisser Geheimrat Friedrich Tussmann, der alles, wie ein Zauberer, wieder ins richtige Lot brachte. So konnten die gruseligsten Begebenheiten zu einem guten Ende gebracht werden. Papa erzählte immer mehr Geschichten vom „Geheimen“, die er dann auch erfand, und wir fieberten den ganzen Tag diesen schaurig-schönen Geschichten entgegen. Ich stellte mir diesen „Geheimen“ ein bisschen wie einen skurrilen, etwas unheimlichen Kasper vor, was er aber ganz und gar nicht war.

Papa war seinerseits ganz der Romantik verfallen und so gab es in seinen Geschichten noch einen Höhepunkt: „die 12 Kugeln“ in Anlehnung an die romantische Oper von Carl Maria von Weber: Der Freischütz. Das haben wir aber erst viel später erfahren. Hier ging es um das Seele verkaufen und um einen Mann mit Pferdefuß, den Teufel. Das war die wildeste Geschichte und wir wollten sie immer wieder hören. Sogar Mama hörte gebannt zu und bedauerte später, dass wir diese Geschichten nicht aufgeschrieben haben.

Als Schlesier, denen man nachsagte, sie seien besonders abergläubisch und mystisch, erzählte uns Papa auch Geschichten von Wiedergängern und Untoten, die man erretten musste. Einmal sprach er von seiner Mutter, die leider inzwischen verstorben war, da fiel urplötzlich in der Ecke unser Besen um, ohne ersichtlichen Grund. Er behauptete, das sei ein Zeichen seiner Mutter. Ich hatte wochenlang Albträume. Ein anderes Mal erzählte er, dass er damals in Breslau ein Stück von Beethoven auf seinem Klavier spielte. Mitten im Spiel fiel die Büste von Beethoven vom Klavier, und zwar nachmittags um 15 Uhr, zur Todesstunde des Musikers. Auch das war für mich extrem gruselig und hat mich lange verfolgt. Später sind mir ähnliche Dinge passiert, ob sie damit zusammenhängen, will ich nicht behaupten.