Grundsatzdebatte nach dem Gäfgen-Urteil
Frankfurt/Main (dpa) - Das Urteil, das dem Kindsmörder Magnus Gäfgen Geld vom Staat wegen einer Folterdrohung im Polizeiverhör zuspricht, hat eine Grundsatzdebatte losgetreten.
Die Polizei sorgt sich um den rechtlichen Rahmen, in dem sie arbeitet - und die Politik streitet, ob die Entschädigung verantwortbar ist. Juristen sehen die Sache dagegen eindeutig: Der Rechtsstaat darf keine Ausnahmen machen.
Dafür plädiert auch die Opposition im Bundestag, die die Unions-Kritik an der Entschädigung für den verurteilten Mörder zurückgewiesen hat. Hessens Innenminister Boris Rhein (CDU) hatte gesagt, das Urteil sei für ihn nur schwer nachvollziehbar und stoße in der Öffentlichkeit auf Unverständnis.
Dagegen sagte der Grünen-Rechtsexperte Jerzy Montag der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Freitag), die Justiz habe konsequent gehandelt: „In einem Rechtsstaat dürfen von der Polizei keine unlauteren, unsauberen Mittel angewendet werden.“ Der Linke-Justizexperte Wolfgang Neskovic sagte dem selben Blatt, das Urteil sei „der Preis für unseren Rechtsstaat“. Androhung von Folter dürfe es auch bei einem Mörder nicht geben, sagte der frühere Richter am Bundesgerichtshof.
Das Land Hessen muss Gäfgen 3000 Euro plus Zinsen Entschädigung zahlen. Die Landesregierung will das schriftliche Urteil prüfen und dann entscheiden, ob sie die nächste Instanz anruft. Auch Gäfgens Anwalt Michael Heuchemer hatte zunächst offen gelassen, ob sein Mandant weitere Rechtsmittel einlegen wolle. Die gut 3000 Euro Entschädigung bleiben laut Frankfurter Staatsanwaltschaft in der Staatskasse. Der 36-Jährige habe aus dem Mordprozess noch 71 000 Euro Schulden bei der Justizkasse offen, die müssten erst beglichen werden, sagte Oberstaatsanwältin Doris Möller-Scheu am Freitag.
Der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestages, Siegfried Kauder (CDU), Verteidigte in der „Rhein-Neckar-Zeitung“ (Freitag) das Urteil: „Wenn wie hier eine verbotene Verhörmethode angewendet worden und eine psychische Schädigung die Folge ist, besteht ein Schmerzensgeldanspruch“, sagte er. „Das mag moralisch verwerflich sein, aber rechtlich gibt es da nichts zu beanstanden.“ Jedoch brachte Kauder eine Gesetzesänderung ins Spiel, damit Schmerzensgeldansprüche von Tätern an die Opfer oder ihre Angehörigen übergehen könnten. Dazu müsste das Opferanspruchssicherungsgesetz geändert werden.
Gäfgen hatte Ende September 2002 den Bankierssohn Jakob von Metzler entführt und eine Million Euro Lösegeld von den Eltern gefordert. Er erstickte den Elfjährigen und versteckte ihn in einem See. Die Polizei nahm Gäfgen nach drei Tagen fest und hoffte noch, der Junge lebe. Vier Tage nach der Entführung nannte Gäfgen im Verhör ein falsches Versteck; Beamte drohten ihm danach mit Folter.
Für Polizisten sei das Urteil „ein sehr schwieriger Moment“, sagte der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Bernhard Witthaut, in der „Passauer Neuen Presse“ (Freitag). Ermittlungsbeamte dürften nicht noch weiter in ihren rechtlichen Rahmenbedingungen verunsichert werden. Der Bundesvorsitzender der Deutsche Polizeigewerkschaft Rainer Wendt sagte: „Natürlich können Richter nicht nach dem Volksempfinden urteilen, aber sie dürfen die Menschen auch nicht völlig ignorieren, in deren Namen sie urteilen.“
Dagegen teilte der Deutsche Anwaltverein die Ansicht des Gerichts, Gäfgen zu entschädigen. „Auch Mördern darf nicht Folter angedroht werden.“ Die sei in Deutschland rechtswidrig und könne einen Schadensersatzanspruch nach sich ziehen, teilte der Verein mit.
Der renommierte Strafrechtler Rainer Hamm hält das Urteil für weise: „Es macht das, was das Landgericht tun musste nach den Vorgaben durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. Den Geldbetrag habe die Kammer zudem mit 3000 Euro so festgesetzt, dass sich Gäfgen daran nicht bereichern könne. Gäfgen-Anwalt Heuchemer nannte die aufkommende Debatte um die Rechte von Straftätern in einem Rechtsstaat „wichtig und gut“.