Karl Kessab ist Londons einziger Tee-Sommelier

Karl Kessab kann Hunderte Sorten nach ein paar Schlucken unterscheiden.

London. Wenn nachmittags am Hyde Park die Rede ist von einem "komplexen Abgang", von Kastanien-Aromen und einem erdigen Bukett, dann geht es keineswegs um Weine. Das Viertel ist ein Himmel für Tee-Connaisseurs - und Karl Kessab ihr "Papst" des guten Geschmacks. Niemand braut seltene Sorten und Geheimrezepte so auf wie er, Londons einziger Tee-Sommelier.

"Zum Frühstück trinken Sie Kaffee?" fragt Karl Kessab (42) fast entsetzt. Es hilft ja nichts: Die Audienz beim Tee-Papst muss mit der Beichte der größten Sünde beginnen. Zum Glück verzeiht Kessab schnell und großmütig - die Erfahrung lehrt ihn, dass viele Kaffee-Junkies sich in zwei Stunden beim britischen "Afternoon Tea" bekehren lassen.

Kessab erkennt jeden Aufguss blind. Ob in den großen Silber-Samowaren des Lanesborough Hotel gerade ein Darjeeling, Assam oder Earl Grey zieht - Karl riecht es. Woher die Teeblätter stammen, wer sie anbaut, das weiß er nach ein paar Schlucken. Hunderte Sorten kann sein Gaumen unterscheiden, seine Favoriten will er heute servieren.

Dabei geht es nicht nur um wohltemperierten Tee, sondern um das Charisma einer alten Zeremonie und um Symmetrie und Perfektion auf dem Tisch. Im Lanesborough, einem von drei Edelhotels am Hyde Park, in denen der Nachmittagstee als besonders schick gilt, schweben die Kellner lautlos mit einer dreistöckigen Etagere an den Tisch.

Drei Gänge korrespondieren mit passenden Tees: Zum ersten, einer Hausmischung aus Darjeeling und Rosenblüten, finden sich auf dem untersten Teller Gurken-, Lachs- und Schinkensandwiches.

Gleich räumt der Sommelier mit jener Frage auf, die das Königreich seit jeher in zwei Lager spaltet: Kommt die Milch oder der Tee zuerst in die Tasse? "Zuerst der Tee", stellt er klar, "sonst kann man die Milch nicht angemessen dosieren."

Doch der Parcours durch Tassen und Etagere ist weiter gespickt mit Etiquette-Fallen. Die Sandwiches und warmen Teebrötchen isst man mit den Fingern. Unter Kessabs Anleitung löffelt man "erst die ungesüßte Schlagsahne, dann die Marmelade und schließlich ein wenig selbstgemachte Zitronencrème" auf die Scones.

Dazu serviert der Kenner einen handverarbeiteten Weißen Assam-Tee, der nach Pfirsich duftet. "Nur zwei Kilogramm wurden davon hergestellt", schwärmt der Sommelier, "und ich habe sie gekauft - komplett." Kessab ist in seiner Tee-Leidenschaft kompromisslos: "Wir erwerben die kostbarsten Tees nur aus einem Grund: Niemand sonst soll sie haben."

Es bleibt der oberste Teller auf der Etagere, gefüllt mit Kuchen-Miniaturen. Für Karl ist es Zeit, die "Rose des Orients" kommen zu lassen, eine der angeblich weltbesten Mischungen aus Sencha- und Gunpowder-Grüntees, versetzt mit Mohnblumen und Rosen. Für den Sommelier ist die "Rose des Orients" wie ein Parfüm, das einen "sanfter" aufwachen lasse als Kaffee. Dieser letzte, augenzwinkernde Seitenhieb musste sein. Kessab ist zwar kein Tee-Snob und lobt sogar den Beutel-Tee aus dem Supermarkt, doch über die Vorzüge seines Lieblingsgetränks lässt er nicht mit sich diskutieren: "Tee ist so komplex wie Wein - nur ohne den Alkohol."