Russland: Namenslabyrinth in Moskaus Straßen
In der Hauptstadt behindert das Chaos der Mehrfachbenennungen selbst geborenen Moskowitern die Orientierung.
<strong>Moskau. Stalin wird die Idee zugesprochen, Moskaus Straßenwesen wie ein Chaos zu gestalten. Die ständige Furcht des Diktators vor einem Einmarsch feindlicher Heere verbot nicht nur Stadtpläne im freien Handel. Aber erst 70 Jahre später und nach einer Systemwende mit über 150 Namensänderungen im städtischen Zentrum durch Postkommunisten ist Stalins Chaos komplett. Selbst geborene Moskauer kennen sich mit den rund 4600 Namen für Straßen, Plätze, Gassen, Alleen oder Metrostationen nicht mehr aus. Auf einer Krisensitzung der Stadtduma im Februar wurde deshalb beschlossen, den gordischen Knoten der Verwirrung endlich zu durchschlagen.
Seither tobt der Kampf im Detail. Zwar begreift jeder Moskowiter, dass allein 16 Parkstraßen, elf Tschobotow-Alleen, acht Feldnebenstraßen oder drei Nebel-Straßen unkundige Autofahrer verzweifeln lassen.
Auch jeweils fünf Woikow- und Kabelstraßen sorgen bei der Suche nach Betrieben und Wohnungen für Fragezeichen. Nur sollen künftig bitte alle übrigen, doch unter keinen Umständen die eigene Adresse anders heißen.
Fast ebenso eigenwillig ging Bürgermeister Jurij Luschkow zu Werke. Vor ein paar Jahren befahl er für die Metrostation Ismailowo-Park den Namen Partisanskaja. Die Straße Partisanskaja aber liegt in Kunzewo, einem weit entfernten Stadtteil.
Überhaupt U-Bahnstationen. Früher bildeten sie meist mit der nächstliegenden Straße eine logische Einheit. Heute erinnert daran nur der Bahnhof Kropotkinskaja. Die einst gleichnamige Straße hört längst auf Pretschistenka.
Das moderne "Allrussische Messezentrum" ist per Metro zu erreichen. Sofern man weiß, dass seine Station noch wie zur Sowjetzeit "Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft" heißt.
Immerhin will die Stadtregierung die jetzt radikale Namensreform voll bezahlen. 5800 bis 8700 Euro kostet sie pro Straße samt neuen Schildern und amtlichen Änderungen in den persönlichen Dokumenten aller Anwohner. Wie kostspielig das Projekt insgesamt wird, bleibt offen. Noch gleicht es einem Straßenkampf.
Was andererseits fehlt, ist eine Tschechow-Straße oder zumindest eine Lermontow-Straße für den zweitgrößten russischen Dichter. Vom größten, Puschkin, zeugt der bekannte Platz und ein Stück Moskwa-Ufer.
Seine Straße aber liegt jenseits des Autobahnrings in der eingemeindeten Datschensiedlung Tolstopalzewo. Wenigstens der Theatergott Stanislawskij errang 2006 posthum einen Sieg. Ihm musste im Stadtzentrum die "Kleine kommunistische Straße" weichen.
Einen echten Durchbruch dürfte die Neuordnung sowieso nicht erzielen. Für ein transparentes Gemeinwesen ist die Mithilfe aller Bürger unerlässlich. Dagegen steht deren Mentalität.