19.05 Uhr: „DDR öffnet Grenze“
Der Tag, an dem nur ein Ort in der Welt wichtig war: Berlin.
Berlin. Donnerstag, der 9. November 1989, in der Politik-Redaktion unserer Zeitung. Was für ein Tag! In Bonn beschließt der Bundestag eine Rentenreform fürs nächste Jahrtausend - ein kleiner Zweispalter unten auf Seite 1. Das Ende eines der mächtigsten Männer der Welt: Chinas Deng Xiaoping gibt den Oberbefehl über die Streitkräfte ab. Findet auf Seite 2 statt. Auch der bis dahin größte Drogenfund in NRW schafft es nur mit sechs Zeilen auf die Titelseite. Dabei hat Zoll-Hund Samson in Düsseldorf 210 Kilo Marihuana erschnüffelt - Verkaufswert zwei Millionen Mark.
Die Nachrichten des Tages kommen aus Prag und aus Ost-Berlin. Stunde um Stunde reisen 300 DDR-Bürger über die tschechische Grenze in die Bundesrepublik aus - es sind schon über 60000. Das Zentralkomitee der SED tagt seit gestern nonstop. Jahrzehntelang interessierte das im Westen keinen Zeitungsleser. Nun ist das komplette Politbüro zurückgetreten, und der neue Staats- und Parteichef Egon Krenz rechnet partei-öffentlich mit Erich Honecker ab.
Tausende demonstrieren in Ost-Berlin. "Wenn es bloß nicht gewalttätig wird...", bangen die Redakteurs-Kollegen, die in den vergangenen Tagen in Dresden und Leipzig vor Ort waren. Das klingt wie eine Beschwörung.
Da läuft um 19.05 Uhr eine Eilmeldung der Nachrichtenagentur AP über den Ticker: "DDR öffnet Grenze." Um 19.41 Uhr meldet dpa: "Die DDR-Grenze ist offen." Ein Wort macht die Runde, das uns noch lange begleiten wird: Wahnsinn!
Die Geschichten, die in dieser Nacht geschrieben werden, sind reif für die Geschichtsbücher. Etwa die vom Mecklenburger Küchenmeister (40). Der heuert für 176 Ost-Mark in Schwerin Taxi Nummer 17 an, brettert nach Hamburg, besucht dort seinen kranken Freund und ist am Abend wieder zurück. Pünktlich zum Arbeitsbeginn.
Was für die Ossis gilt, gilt auch für uns Wessis: Reisefreiheit. Bei Herleshausen, zwischen Kassel und Eisenach, fahre ich kurz vor Weihnachten erstmals ohne Visum, Anmeldung und Geldumtausch von West nach Ost. Die Grenzer wollen nicht mal in den Pass schauen. Wahnsinn!
Und die Menschen im Osten, den wir nun Ort für Ort entdecken? Sie sind freundlich, aber nicht überschwänglich. Ja, sie haben eine Revolution gewagt und gewonnen. Aber nein - nicht für uns, damit wir frei einreisen können. Sondern für sich und für ihre ganz persönliche Freiheit.
Und heute, 20Jahre später? Für mich sind Urlaube an der Ostsee und Städtetouren nach Dresden so selbstverständlich wie Ferien in Holland und Ausflüge nach München. Dass es mal zwei Deutschlands gab - Wahnsinn!