Analyse: Die Welt blickt auf die deutschen Lohnrunden

Mit maßvollen Abschlüssen wurden in der Vergangenheit exportorientierte Firmen gestützt.

Gelsenkirchen. Es klingt nach einem alten Ritual. Die Unternehmen steigern nach der Krise ihre Gewinne und stellen wieder ein. Die Reaktion des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) lässt nicht lange auf sich warten. "Jetzt sind unsere Leute mal wieder dran", mahnt dessen Chef Michael Sommer. Die IG Metall fordert in den Tarifverhandlungen für die Stahlarbeiter, die heute in Gelsenkirchen fortgesetzt werden, sechs Prozent mehr Lohn. Unterstützung finden die Gewerkschaften aber längst nicht mehr nur bei ihnen nahestehenden Parteien, sondern bei Ökonomen rund um den Globus.

Von Lohnerhöhungen wie 1974, als der Öffentliche Dienst ein Plus von elf Prozent herausholte, sind die Gewerkschaften heute weit entfernt. Mit maßvollen Abschlüssen unterstützten sie die exportorientierten deutschen Industrieunternehmen in den vergangenen Jahren dabei, ausländische Konkurrenten auszustechen.

Dass kräftige Lohnerhöhungen jedoch ökonomisch sinnvoll sind, argumentieren Anhänger einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik, die eher vom linken Spektrum vertreten wird, seit Jahren. Dazu zählen der Wirtschaftsweise Peter Bofinger und Heiner Flassbeck, einst Staatssekretär bei Kurzzeit-Finanzminister Oskar Lafontaine und heute Chefökonom der Uno-Behörde Unctad. Neu ist, dass sich selbst Experten wie Raghuram Rajan, Wissenschaftler an der konservativen Business School der Universität Chicago, für die Tarifpolitik zwischen Flensburg und Berchtesgaden interessieren. "Jetzt, wo Deutschland sehr wettbewerbsfähig ist, ist das Land bereit für höhere Löhne", sagt Rajan.

Hintergrund sind seiner Einschätzung nach die Ungleichgewichte zwischen den Industrienationen. Während die USA ihr Wachstum im zurückliegenden Jahrzehnt auf den Konsum stützte, profitierten China und Deutschland vom Export. Solche Schieflagen gelten als einer der Auslöser der Finanzkrise.

Damit die eigene Bilanz ausgeglichener wird, müsste Deutschland dauerhaft - also über die Konjunkturpakete hinaus - im Inland investieren, den eher schwach ausgeprägten Dienstleistungssektor stärken, und die Menschen müssten mehr ausgeben. Ohne höhere Löhne dürfte dies schwierig werden, argumentiert US-Ökonom Rajan. Der Abschluss für die rund 85 000 Stahlkocher könnte so gesehen ein erstes Signal sein, ehe Ende des Jahres die Tarifverhandlungen in größeren Branchen beginnen.