Das islamistische Schreckgespenst
Die sogenannte Ennahdha-Bewegung liegt in Tunesien vorn.
Tunis. Die Freude über die ersten freien Wahlen in der Geschichte ihres Landes währte für viele westlich gesinnte Tunesier nur kurz. Am Montag zeichnete sich nach ersten inoffiziellen Berichten ein deutlicher Wahlsieg der islamistischen Ennahdha-Bewegung des 70-jährigen Rachid Ghannouchi ab. Der liberale Bevölkerungsteil fürchtet nun einen für sie dramatischen Wandel des Landes — bis hin zu Kopftuchzwang, Alkoholverbot und getrennten Stränden für Männer und Frauen.
In wieweit diese Sorge berechtigt ist, ist völlig unklar. Im Wahlkampf verkaufte sich die Ennahdha-Bewegung als moderne Partei nach dem Vorbild der türkischen AKP. Niemand werde an den Freiheits- und Bürgerrechten rütteln, sagte Ghannouchi. Auf Parteiveranstaltungen saßen Männer und Frauen dennoch meist getrennt.
Stark ist die Ennahdha vor allem in den sozial schwachen Gebieten in den Städten und auf dem Land. Als Hoffnungsschimmer für liberale Tunesier gilt, dass Ghannouchi keine größeren echten Bündnispartner hat. Sollte die Ennahdha am Ende deutlich unter der 50-Prozent-Marke liegen, könnten sich die vielen Parteien am anderen Ende des politischen Spektrums zusammenschließen.
Mit großer Sorge wird die derzeitige Ennahdha-Diskussion vor allem in der Tourismusbranche gesehen. Nach den Revolutionsunruhen brach das Urlaubergeschäft um knapp die Hälfte ein. 22 000 Arbeitsplätze gingen verloren, davon 3000 Vollzeitstellen. Aus Angst vor neuer Gewalt meiden bis heute manche Europäer die tunesischen Strände. Bei einer Islamisierung des Landes bestehe die Gefahr, dass die Strände leerblieben, fürchten viele nicht nur in den Touristengebieten.