"Er wollte ein besseres Leben für die Kinder in Afghanistan"
Der Soldat Andrejas Beljo starb in Kabul durch einen Selbstmordattentäter. Seine Witwe erzählt, wie sie damit lebt.
Erftkreis. "Ich wollte nur Deine Stimme hören. Hier ist es so ruhig, die Ruhe vor dem Sturm." Es ist der Abend des 6. Juni 2003, als Andrejas Beljo sich ein letztes Mal bei seiner Frau Andrea meldet. Zwölf Stunden später ist der 28-jährige Oberfähnrich tot. Getötet von einem Selbstmordattentäter, der sich in der afghanischen Hauptstadt Kabul neben einem Bus der Bundeswehr in die Luft gesprengt hat. Vier Soldaten sterben. Die Deutschen wollten zum Flughafen, um nach fast vier Monaten Einsatz am Hindukusch zurückzufliegen in die Heimat.
Irgendwo im Rhein-Erft-Kreis. Das Haus der Familie Beljo ist weihnachtlich geschmückt. Im Wohnzimmer stehen Kinderbilder auf einer Kommode, darüber hängt ein großes Foto von Andrejas Beljo in Uniform. "Ich möchte diesen Monat am liebsten auslöschen", sagt die Mutter eines Sohnes (11) und einer Tochter (7). Auch mehr als sechs Jahre nach dem Anschlag ist der Schmerz greifbar, ganz so, als wäre es erst gestern geschehen.
Die Kundus-Affäre trägt dazu bei, dass die Familie auch zu Weihnachten keine Ruhe findet. Die 34-Jährige spricht von "Wut im Bauch", von "im Stich gelassenen Soldaten". Selbst der Sohn verfolge aufmerksam die aktuelle Diskussion: "Mama, die Taliban wollten doch etwas Böses. Sonst hätte der Oberst bestimmt keine Bomben geschickt, oder?"
Vier Bosnien-Einsätze hatte Andrea Beljo mit ihrem Mann durchgestanden, bevor der Oberfähnrich im März 2003 nach Afghanistan abkommandiert wurde. "Andrejas war von seinem Auftrag überzeugt", erzählt seine Witwe mit leiser Stimme. "Er wollte, dass die Kinder einmal in einer besseren Welt leben." Sie erinnert sich an seine erschütternden Berichte von Mädchen und Jungen, die in der Kälte ohne Schuhe laufen und nur mit Plastikflaschen spielen. "Schickt, was ihr kriegen könnt, das Leid ist unvorstellbar", habe Andrejas Familie und Freunde um Hilfe gebeten. Mit Kameraden unterstützte er ein Waisenhaus in Kabul.
Andrea Beljo
In Deutschland setze sich kaum jemand ernsthaft mit dem Afghanistan-Einsatz auseinander - und wie es den Angehörigen ergehe. "Mein Mann hat immer gesagt: ,Ich kann mich nicht so oft melden, Maus. Ich trage Verantwortung und bin froh, wenn meine Jungs und ich heil raus sind.’"
Dann kam dieser Pfingstsamstag, den Andrea Beljo "wie unter einem Schleier" erlebte. Mittags rief eine Freundin an und schrie ins Telefon: "Sag mir, dass es ihm gut geht." Immer wieder habe sie diesen Satz wiederholt. "Ich sollte sofort den Fernseher anmachen. Ich zitterte so, dass ich Stunden dafür brauchte." Dann sah sie den zerfetzten Bus. Im zuständigen Familienbetreuungszentrum der Bundeswehr herrschte Ratlosigkeit. Schweigen zunächst auch von offizieller Seite.
"Es klingt verrückt, aber ich bin erst mal unter die Dusche gegangen. Ich wollte den Gedanken abspülen, dass mein Mann tot sein könnte", sagt Andrea, und Tränen laufen ihr über das Gesicht. Eine Freundin holte den Dreijährigen zu Hause ab, die Familie kümmerte sich um die erst wenige Monate alte Tochter. Es klingelte an der Tür. "Ich hörte den Aufschrei meiner Schwiegermutter. Da standen Andrejas’ Kommandeur und ein Priester." Jedes Wort - überflüssig, unpassend. Die nächsten Tage? Wie in einem Alptraum. "Zum Glück nahm mir ein Sozialberater der Bundeswehr den Papierkram ab."
Als Horror habe sie die Trauerfeier auf dem Militärflughafen in Köln-Wahn empfunden. "Der damalige Verteidigungsminister Peter Struck konnte uns nicht in die Augen sehen. Kein Wort des Bedauerns, nichts", erinnert sich Andrea Beljo. Dann der Moment, als die Särge unter Trommelwirbel in den Hangar geleitet wurden. "Dieses Trommeln bekomme ich nicht aus dem Kopf."
Sie setzte durch, am Reintegrationsseminar der heimkehrenden Soldaten teilnehmen zu können. "Ich brauchte den Kontakt zu seiner Kompanie. Ich wollte wissen, wie es passiert war." Zu viele schmerzliche Gerüchte machten die Runde, etwa dass Andrejas enthauptet worden sei. Fakt ist, dass der Oberfähnrich gerade die Dachluke des Busses öffnen wollte, als der Attentäter die Bombe zündete. "Andrejas wurde herausgeschleudert." Im Oktober 2003 reiste die Witwe auf eigenes Drängen mit anderen Angehörigen nach Kabul. "Erst dort wurde mir klar, dass Andrejas nicht zurückkommt." Zwei Jahre machte sie eine Therapie, bis sie mit dieser Wahrheit umgehen konnte.
In diesen Tagen werden die Wunden wieder aufgerissen. Wenn es zum Beispiel um die Zahlungen an die Hinterbliebenen des Bombardements von Kundus geht. "Glaubt irgendjemand, dass dieses Geld bei den Waisen und Witwen ankommt? Die Taliban kaufen damit Waffen, mit denen sie dann unsere Soldaten töten." Ob sie auch eine Entschädigung von Gulbuddin Hekmatyar verlangen könne? Beljo lacht bitter. Hekmatyar ist einer der mächtigsten Stammesführer Afghanistans und soll den Anschlag 2003 befohlen haben.
Nachdenklich gemacht hat Andrea Beljo auch die kollektive Trauer nach dem Suizid von Fußballnationaltorwart Robert Enke. "Sein Tod ist schlimm. Aber wie kann man ihm eine solche Ehre erweisen und den gefallenen Soldaten nicht?", fragt die Witwe. "Enke hat für Deutschland im Tor gespielt. Die Soldaten lassen für Deutschland ihr Leben." So wie Andrejas Beljo.