Grossbritannien: Eine Wahl ohne Gewinner
Trotz der hohen Verluste von Labour und dem Plus bei den Konservativen droht ein langes Tauziehen um die Regierung.
London/Düsseldorf. David Cameron hatte es sich so einfach vorgestellt: "Wir können am Freitagmorgen mit einer neuen Regierung und einem Neustart aufwachen." Stattdessen machten die Briten die Augen auf und standen vor einem Wahl-Kuddelmuddel, das noch nie dagewesen war. Es gibt zwar eine stärkste Partei - die Konservativen von Cameron. Es gibt aber keinen Sieger. Premier Gordon Brown, der eine saftige Niederlage für seine Labour-Partei eingefahren hat, beansprucht weiter das Amt in der Downing Street Nummer 10.
Ironischerweise liegt der Schlüssel zur Macht bei den Liberaldemokraten - obwohl sie weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. Sie holten nur 23Prozent der Stimmen, was wegen des Mehrheitswahlrechts lediglich für 57 Sitze reichte.
Sowohl Labour als auch die Tories legten der Partei von Nick Clegg gestern verlockende Angebote vor, um sie ihnen gewogen zu machen. Wer letztlich mit wem geht und wer wem zur Macht verhilft, war gestern noch unklar. Vieles deutete darauf hin, dass der 43-jährige Cameron seine Möbel in die Downing Street schaffen kann. Aber auch das vor einigen Monaten noch undenkbare Szenario, dass Brown weiter an der Macht bleibt, war zumindest wieder realistisch. Allerdings bräuchte er neben den Liberaldemokraten noch einige Abgeordnete der kleinen Regionalparteien für eine Regierungsmehrheit.
Labour wies unermüdlich darauf hin, dass in einer solchen Situation der amtierende Premier - und nicht die Partei mit den meisten Sitzen - die Regierung bilden darf. Die Liberaldemokraten wollen aber zuerst mit den Konservativen verhandeln, und Brown teilte gestern mit, dass er diesen Wunsch respektiere. Als Rückzug ist das allerdings nicht zu deuten, obwohl die Sozialdemokraten mit 29 Prozent das zweitschlechteste Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte eingefahren haben. Es ist eine Ohrfeige für Brown und "der Tod von New Labour", kommentierte die linksliberale Zeitung "The Independent". "Raus aus der Nummer 10, Gordon", titelte die Abendzeitung "Evening Standard".
Das traditionelle Duopol aus Labour und Tory-Partei hat im modernen Großbritannien jedenfalls ausgedient - das Parlament wird bunter. Die Konsequenz, nämlich eine neue Unübersichtlichkeit, kann das Westminster-System kaum verarbeiten. Der gestrige Kurssturz des Pfunds gegenüber dem krisengeplagten Euro symbolisierte dies.
Einen "Rückfall in viktorianische Zeiten" hatten schon in der Nacht Wahlbeobachter beklagt: Hunderte Briten hatten ihre Stimme nicht abgeben können, weil sich vor einigen Wahllokalen so lange Schlangen gebildet hatten, dass manche Wartende bis zur Schließung nicht zum Zug kamen. Im Osten Londons musste gar die Polizei ausrücken, um Tumulte zu beenden. Es war eine Ironie des Tages, dass der Liberale Nick Clegg, der das System reformieren will, zu den größten Verlierern der Wahl zählt.
Auch wenn die euroskeptischen Konservativen den nächsten Premier stellen sollten, wird sich auf europäischer Ebene nach Einschätzung des ehemaligen Gesandten der britischen Botschaft, Hugh Mortimer, nicht viel ändern. "Cameron muss erkennen, dass sich das von den Euroskeptikern kritisierte Europa gewandelt hat", sagte er gestern im Britischen Generalkonsulat in Düsseldorf.