Analyse Christian Lindner und die vielen Rätsel - Was aus der FDP geworden ist
2017 standen die Liberalen unmittelbar vor der Regierungsverantwortung. Seither hat sich fast alles verändert: Die Umfragen, die Themen, die klare Linie in der Partei – und die Strahlkraft ihres Vorsitzenden. Eine Analyse.
Als Christian Lindner im November 2017 mit der FDP geradewegs auf die Bildung einer Jamaika-Koalition im Bund zusteuerte, hatte er drei Wochen zuvor sein Buch „Schattenjahre“ vorgelegt. Er schrieb darin über Absturz und Aufstieg der FDP, er schrieb über politische Glaubwürdigkeit, die sich aus Themen und nicht aus zementierten Partnerschaften speisen sollte. Er schrieb über ein neues Selbstverständnis seiner Partei, die sich das bis zum Erbrechen selbst vorzuexerzieren habe, um ja nie mehr in alte Muster zu verfallen. Er schrieb über die Grünen und deren Philosophie als Antipoden der Liberalen – und über das dann doch oft ähnliche Klientel. Und er schrieb über den Plan, den der heute 40-Jährige mit der FDP für künftige Bündnisse auf dem Höhepunkt seiner eigenen Popularität unverrückbar gefasst hatte: „Wenn Gutes bewirkt werden kann, dann stehen wir zur Verfügung. Und ansonsten eben nicht.“ Lindner hielt dieses Inhalte-Dogma für eine wirklich logische Idee. Und für eine gute. Aber dann kam alles anders.
Am 20. November ließ er Taten folgen. Das Bild der hell beleuchteten FDP-Spitzen in der Berliner Dunkelheit, die Jamaika für gescheitert erklärten, wird bleiben. Lindner fühlte sich von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hintergangen. Dass sie die Liberalen von 2009 bis 2013 in der Regierungskoalition am kleinen Finger verhungern ließ, hat er ohnehin nie vergessen. Und dann noch die Grünen? So richtig geheuer war Lindner das alles nie. Was er in „Schattenjahre“ an Grundkonzeption erfasst hatte, drohte blitzschnell im politischen Grundrauschen der neuen Regierung zwischen stärkeren Partnern zu zerbersten. Auf die Grünen ging Merkel in vielen Fragen zu, die Liberalen hielt sie aus alter Tradition für politischen Beifang. Aber so leicht, dachte Lindner, sollte sie es nie wieder haben. Diese Gedankenregie prägte seine Absage. Und sie prägt Lindner noch heute. Nur hat sich inzwischen alles um ihn herum verändert.
FDP profitiert gar nicht von der Eruption bei den Volksparteien
Der Unmut der Bürger über die Flucht ins Abseits hält an. Der Wähler hatte sich ein innovatives Bündnis gewünscht, bekommen hat er die bis heute verhasste große Koalition. Weil diese Abneigung in Permanenz begründet wird, hört das auch mit den Vorwürfen gegenüber der FDP nicht auf. Lindner – kein Zweifel – hatte sich das anders vorgestellt. Aber das Momentum ist Dauerzustand. Auch, weil Lindner zu sehr von der Sache und seiner Partei und nicht etwa von dem großen Innovationsprojekt Deutschland her denkt, also entgegen seines eigenen Anspruchs eigentlich viel zu klein.
In den Umfragen sinkt die FDP ab. Aber schlimmer als der eigene Punktabfall als solcher ist die Tatsache, dass die Liberalen von der gewaltigen Eruption bei CDU und SPD und der verhassten Groko gar nicht profitiert. Das ist die eigentliche Krise der FDP. Stattdessen hüpfen die Grünen über jeden gerade eingerissenen Rekordwert. Eine Verbotspartei, findet Lindner. Erfolgreich ist also das Gegenteil von Liberalismus?
Die kritischen Stimmen in der FDP über einen Vorsitzenden, dem alle Liberalen viel zu verdanken haben, werden auf den Fluren von Landtagen und Bundestag vernehmbarer. Als diese Zeitung mit zwei ziemlich simplen Fragen eine prominente FDP-Stimme in NRW begehrt, lässt sich niemand finden, der über Krisengründe und Vorsitzenden-Kritik ein Wort verlieren will. Urlaub, niemand da – wegducken. Man hätte mit ein bisschen Willen etwas Positives formulieren können. Aber will das gar niemand mehr?
Das Büro von Christian Lindner verweist an die neue Generalsekretärin Linda Teuteberg. Sie sei ja ohnehin kaum hörbar, hatte die ARD-Frau Tina Hassel gerade erst Lindner im ARD-Sommerinterview entgegen geschleudert, und Lindner hatte sich ereifert, dass man Teuteberg doch mal Zeit lassen müsse, das sei doch nur fair. Aber schon das ist nicht mehr der alte Lindner.
Zeit lassen – das war etwas für die anderen. Unter ihm sollte die FDP schneller denken, sachsicher argumentieren, handeln und auch ein bisschen hipp sein. Aber die aktuelle FDP spielt auf Zeit, ordnet sich personell und sucht beständig die Themen, mit denen man künftig mal wieder angreifen könnte. Mehr werden die nämlich nicht: Das Klima ist bei den Grünen, die innere Sicherheit bei der CDU, Angst vor allem Fremden bei der AfD, die letzten halbwegs zufriedenen Arbeiter bleiben noch bei der SPD.
Und mit originären FDP-Inhalten wie Bürgerrechtspolitik ist kein Staat mehr zu machen, wenn kaum jemanden in der Zivilgesellschaft mehr wirklich aufregt, dass der Bürger komplett durchleuchtet ist. Gerhart Baum, das Bürgerrechtsgewissen der Partei, hatte das unlängst kritisiert. Auch der Vorsitzende, schrieb Baum in der „Welt“, „der das Bild der Partei nach wie vor maßgeblich bestimmt, entwickelt nicht die frühere Anziehungskraft“. Lindner antwortete, dass er viel mehr Themen als nur Bürgerrechte im Blick haben müsse – und Baum seit 40 Jahren mosere.
Mit Kritik hat er ein Problem, auch wenn er sie wegzulächeln versucht: Seine Klima-Aussage (verkürzt: „’was für Profis“), die ihn bei den eigenen Leuten viel Reputation und Vertrauen auf sein sicheres politisches Gespür gekostet hat, verteidigte er wochen- und monatelang, bis er defensiver wurde.
Und Linda Teuteberg? Die angeblich zu stille Generalsekretärin aus Königs Wusterhausen antwortet dieser Zeitung, man sei vor „knapp zwei Jahren mit 10,7 Prozent in den Bundestag zurückgekehrt, und wenn wir jetzt in Umfragen knapp darunter stehen, gibt es keinen Anlass, alles gleich in Frage zu stellen“. Und sie fährt fort: „Trotzdem nehmen wir diese Momentaufnahmen immer auch als Ansporn. Die politischen Ränder in Deutschland werden stärker. Da ist die FDP als eine Kraft der Mitte wichtiger denn je. In emotionalen Diskussionen stehen wir für Vernunft, zum Beispiel für Klimaschutz mit Verstand und Innovationen statt mit Verboten, und eine Migrationspolitik, die Humanität und Fachkräfteeinwanderung mit rechtsstaatlicher Konsequenz verbindet.“ Die FDP also als ausgleichende Stimme. Von allem ein bisschen, überall mit Vernunft feilen. Aber wo ist die leitende Idee, die Innovation, der klare Markenkern? Eine Frage nach der vermeintlich nachlassenden Strahlkraft des Vorsitzenden müsse Lindner wohl eher selbst beantworten, heißt es noch aus dem Büro Teutenberg. Doch aus Lindners Büro kommt: nichts.
„Lieber Vermögensteuer oder gleichaltrige Freundin?“
Vielleicht ist er es auch leid. Lindner sucht seinen Weg. Die neue politische Linie ist nicht mehr so klar gekennzeichnet, wie er sie seinerzeit in seinem Buch markiert hatte. Die Themen sind andere, es scheint, als folge die FDP ihnen nur fußkrank. Und Lindner wird zu allem Überfluss – wohl allzu profan – nachgesagt, seit seiner Liebesbeziehung zu einer wesentlich jüngeren RTL-Journalistin seine Arbeit auch mal liegen lassen zu können. Aber ist es wirklich so einfach, wie es eine ARD-Zuseherin im Sommer-Interview fragte? „Lieber Vermögensteuer oder gleichaltrige Freundin?“ Lindner erstarrte und urteilte: „Geschmacklos.“
Wenn es um seine Rolle geht, spricht Lindner lieber von anderen. Er müsse und wolle das Personaltableau der FDP ausbauen. Das ist ein zäher Prozess, die Partei kommt von ganz unten und arbeitet sich fleißig nach vorn. Aber wirklich wahrnehmbar ist sie auch aufgrund einer fehlenden thematischen Gesamtstrategie noch kaum. In Nordrhein-Westfalen machen die FDP-Minister Andreas Pinkwart (Wirtschaft), Yvonne Gebauer (Schule) und Joachim Stamp (Flüchtlinge, Familie) gute Arbeit, aber sie zeichnen sich vor allem durch Fleiß, systematisches und pragmatisches Abarbeiten aus, weniger als ideologisch maßgebende Liberale, die noch dazu Ambitionen für die Berliner Bühnen hätten.
Und: Die FDP hat vor allem in Berlin ein perspektivisches Problem: Was eigentlich auf die Grünen antworten? Reicht der Hinweis auf die Verbotspartei, wenn immer mehr Menschen glauben, dass Verbote notwendig sind, weil es in der Klimafrage um ihr schlichtes Überleben geht? Und könnte ein neuer Anlauf für eine Jamaika-Koalition überhaupt funktionieren?
Die Grünen könnten bei einem verfrühten Bruch der Groko, von dem nicht mehr wirklich viele ausgehen, angesichts ihrer Umfragewerte auf Neuwahlen pochen – und die FDP überflüssig machen, weil dann Schwarz-Grün reichen könnte. Und: Sollte es jemals wieder zu Jamaika-Verhandlungen kommen, ist niemand so sehr unter Druck wie die Liberalen, wenn es ums gelingen ginge. Dann als wohl noch kleinerer Partner als in jenen Tagen von 2017, in denen die Krise der FDP begann.