Vor Sonderparteitag Jeder Zweite zweifelt an Nahles als neuer SPD-Vorsitzenden
Berlin (dpa) - Durch neue Akzente und ein klares Profil will die designierte SPD-Chefin Andrea Nahles die Sozialdemokraten aus ihrem tiefen Tal herausführen.
„Das ist für mich eine ehrlich empfundene Ehre“, sagte Nahles der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf die Aussicht, die erste Frau an der Spitze in knapp 155 Jahren Parteigeschichte zu werden. „Ich glaube, ich kann das, und ich kann das auch im Team mit anderen zu was Gutem machen.“
Nahles tritt am Sonntag in Wiesbaden bei einem Sonderparteitag gegen Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange an. Die 47 Jahre alte Nahles gilt als klare Favoritin. Unterstützung bekommt sie von Juso-Chef Kevin Kühnert - in der Debatte um eine weitere GroKo war er ihr erbitterter Gegner gewesen. Viele Bürger trauen Nahles dagegen nicht zu, die krisengeplagte Partei wieder nach vorne zu bringen.
Die SPD war bei der Bundestagswahl 2017 unter ihrem vormaligen Parteichef Martin Schulz auf ein Tief von 20,5 Prozent der Stimmen gesackt. Durch die harten Debatten um eine Beteiligung an einer weiteren großen Koalition mit der Union gab und gibt es erhebliche Differenzen. Nahles hat einen großen Erneuerungsprozess angekündigt. Lange wirft ihr aber zu wenig Basisnähe vor und will anders als Nahles zum Beispiel das Hartz-IV-System abschaffen.
„Wir müssen über Agenda-Politik reden“, sagte Lange der dpa. „Zudem braucht es eine programmatische, eine inhaltliche Profilierung der SPD.“ Im SWR warf Lange Nahles vor, nicht die Voraussetzungen für die Erneuerung mitzubringen. „Sie hat so oft schon den Erneuerungsprozess ausgerufen (...) Ich glaube, an der Stelle hatte sie mehrere Chancen, die Partei nach vorne zu bringen und es ist ihr nicht gelungen.“
Zweifel haben auch viele Bürger. Einer Umfrage zufolge sieht fast jeder zweite Deutsche Nahles nicht als Hoffnungsträgerin. 47 Prozent der Befragten sind skeptisch, ob sie als Parteichefin geeignet wäre, die SPD zu einen und nach vorn zu bringen, wie der „Deutschlandtrend“ von Infratest dimap für das ARD-„Morgenmagazin“ ergab. Jeder Dritte traut ihr demnach zu, die Partei wieder zu stärken. Optimistischer sind die SPD-Anhänger. Die Hälfte von ihnen glaubt, dass Nahles es schafft, die Partei aus der schwierigen Lage herauszuführen.
Nahles räumte ein, es könne schon passieren, dass sie morgens aufwache und sich frage: „Oh, haste dir das auch gut überlegt?“ Gerade in Ostdeutschland gebe es viel zu tun - hier liegt die Partei in vielen Regionen weit hinter der AfD. Sichere Arbeit, gute Bezahlung und vernünftige Löhne stünden ganz oben auf der Agenda.
Es gehe um neues Vertrauen, mehr Bürgerdialog, um neue Konzepte angesichts der Umwälzungen durch die Digitalisierung in der Arbeitswelt. Die SPD müsse zeigen: „Wir sind die Kraft der Zukunft und des Fortschritts.“ In der internationalen Politik will Nahles die Rolle der SPD als Friedenspartei stärken - und fordert wie auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mehr Dialog mit Russland, um zum Beispiel die Eskalation in Syrien zu überwinden.
Führende Genossen warben erneut für Nahles als SPD-Chefin - unter anderen Parteivize Manuela Schwesig und der Chef des mächtigen SPD-Landesverbandes in NRW, Michael Groschek. Mit der Vereinigung von Partei- und Fraktionsvorsitz auf Nahles werde die Sozialdemokratie deutlich wahrnehmbarer, sagte Groschek der dpa. „Mit Nahles an der Spitze wird es 'SPD pur' auch neben dem Regierungsalltag geben.“
Juso-Chef Kühnert, der den Widerstand gegen die GroKo und damit gegen den Kurs von Nahles angeführt hatte, sagte „Spiegel Online“, nach langem Abwägen habe er sich entschieden, für Nahles zu stimmen. „Nicht aus Euphorie, sondern als Vertrauensvorschuss, der an Erwartungen geknüpft ist.“ Es sei gut, dass Lange kandidiere, aber es sei nicht genug, den Finger in die Wunde zu legen und Bestehendes zu kritisieren. Es müssten auch Lösungen her. „Das sehe ich bei Andrea Nahles mehr als bei Simone Lange, was jedoch nicht bedeuten muss, dass Andrea Nahles' Antworten zwingend immer meine Antworten sind.“
Die SPD hatte nach der Wahl zunächst in die Opposition gehen wollen. Nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche von Union, FDP und Grünen kam dann aber doch eine weitere GroKo. Der intern unter Beschuss geratene SPD-Chef Schulz gab das Amt ab, Olaf Scholz führt die Partei und ihre 457.700 Mitglieder bis Sonntag kommissarisch.