Analyse Schulz kann noch Kanzler werden
Rund 100 Tage vor der Bundestagswahl läuft dem SPD-Kandidaten die Zeit davon. Martin Schulz setzt weiter auf „Gerechtigkeit“, während die Deutschen sich um die instabile Weltlage und Terror sorgen.
Berlin/Dortmund. Rund 100 Tage vor der Bundestagswahl ist der öffentliche Kalender des SPD-Kanzlerkandidaten erstaunlich leer. Mittwoch: nichts, öffentliche Partei-Termine haben Hubertus Heil und Ralf Stegner. Morgen: Manuela Schwesig besucht einen Seniorenclub in Schorfheide, Olaf Scholz spricht zuhause in Hamburg mit Bürgern; Martin Schulz: nichts. Freitag: wieder nichts. Samstag: und noch mal nichts. Derweil reist die Bundeskanzlerin zum Papst.
Am 25. Juni dann, nach weiteren Schulz-Tagen des Nichts und der Nichtigkeiten, soll die Parteibasis in Dortmund antreten und wieder „Martin, Martin“ rufen. In Moers behaupten böse Zungen, der „Schulzzug“ fahre nach drei vergeigten Landtagswahlen genau so, wie dessen Wahlkampfmanager Markus Engels früher am Niederrhein nach seinem Awo-Zivildienst auch das Taxi gelenkt habe.
Wahlkampf-Legende Frank Stauss, der etliche SPD-Wahlkämpfe geführt, gewonnen und verloren hat (zuletzt NRW), sagte es diese Woche bei „Bild“ noch gemeiner: „Martin Schulz hatte eigentlich einen guten Start.“ Aber nach den ersten Umfrageerfolgen habe es bei ihm eine „Art von Schaffenspause“ gegeben, „es wurde nicht nachgelegt.“ Und nun laufe ihm die Zeit davon.
Das ist wörtlich zu nehmen: Wenn die SPD am Sonntag kommender Woche ihr Programm beschließt, bleiben bis zur Bundestagswahl noch 92 Tage. In Bremen und Niedersachsen beginnen bereits in der kommenden Woche die Sommerferien. In Baden-Württemberg dauern sie bis zum 9., in Bayern bis zum 11. September. Es bleiben also noch ganze 14 Tage vor der Wahl, in denen nicht halbe Bundesländer im Urlaub sind, um den Wählerinnen und Wählern klar zu machen, warum sie Schulz statt Merkel ihre Stimme geben sollten.
Dass das ein handfestes Problem ist, hat der Kandidat Schulz offenbar immer noch nicht verstanden. Auf dem Sonderparteitag der SPD-NRW am vergangenen Wochenende beschwerte er sich, ihm halte man vor, nicht konkret genug zu werden, während die CDU nicht einmal ein Programm habe. Und dann lese er immer, dass er ja nur über die Dörfer fahre, wo doch Merkels Auftritte auf G7-Gipfeln und der Weltbühne weder Kita- noch Arbeitsplätze schafften. Und wenn etwas konkret sei, dann doch wohl der Rentenplan der SPD.
Laut aktueller Erhebungen der Forschungsgruppe Wahlen ist Rente jedoch kein Thema, das die Deutschen derzeit besonders interessieren würde: Mehr als 60 Prozent der Deutschen beurteilen die allgemeine und ihre persönliche wirtschaftliche Lage als gut, gleichzeitig glauben 61 Prozent mit Blick auf die weltweite wirtschaftliche und politische Lage, dass wir in besonders unsicheren Zeiten leben. 80 Prozent glauben, dass es in nächster Zeit in Deutschland zu Terroranschlägen kommen wird. 89 Prozent wünschen sich wegen der Politik von US-Präsident Donald Trump einen engeren Schulterschluss der EU-Staaten.
Auf diese Gefühlslage antwortet die SPD mit einem Programmentwurf, der sich wie ein Haufen Fußnoten eines innerbetrieblichen Verbesserungsvorschlags der „Deutschland GmbH“ liest: Gute Schule, gute Pflege, gute Rente, mehr Gerechtigkeit. „Handelsblatt“-Herausgeber Gabor Steingart, bekennender Schulz-Gegner vom ersten Kandidatur-Tag an, bescheinigte ihm jüngst: „Positiv könnte man sagen: Schulz surft nicht auf den Wellen des Zeitgeistes. Doch zugleich wird man das Gefühl nicht los: Da wo Schulz surft, ist gar kein Wasser.“
Trotz der sich verschärfenden Nahost-Krise, Trumps Aufkündigung des Klimaschutzes und der britischen Terrorserie führe Martin Schulz seinen Gerechtigkeitswahlkampf weiter und verzwerge die SPD, die sich mit einem Schmalspurangebot präsentiere: „Die gesellschaftliche Mitte wird von ihr ohne Not aufgegeben. Das Aufstiegsmilieu erfährt keine Ansprache. Mittelstand und Freiberufler zählen offenbar nicht mehr zur Familie.“ Der Mann könne fünf Fremdsprachen und vielleicht könne er später auch Minister oder Fraktionschef: „Aber Wahlkampf kann er mit Sicherheit nicht.“
Man muss Steingarts rüde Kritik — er beschrieb Schulz schon im Dezember 2016 als einen im Volk weithin unbekannten Mann „der die Zulassung zum Abitur nicht schaffte, wenig später zum Trinker wurde, bevor er als grantelnder Abstinenzler für 22 Jahre im Brüsseler Parlament verschwand“ — nicht teilen, aber gänzlich von der Hand zu weisen ist sie nicht.
Die Chef-Wirtschaftskorrespondentin der „Welt“, Dorothea Siems, staunte im März in einem Kommentar, dass der „Schulz-Sound“ nicht viele Wähler abstoße, weil er von Herablassung zeuge: „Denn das Menschenbild, das Schulz’ Narrativ zugrunde liegt und das seine Partei bisher unwidersprochen akzeptiert, zeigt einen hilfsbedürftigen Bürger, der nicht in der Lage ist, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und den jeder Schicksalsschlag unweigerlich aus der Bahn wirft.“ Zweifellos gebe es Menschen, die ohne die zahlreichen staatlichen Hilfestellungen unter die Räder kämen: „Aber anders als der SPD-Chef suggeriert, handelt es sich um kleine Minderheiten und keineswegs um große Teile der Bevölkerung.“
Die SPD beschrieb es nach Sigmar Gabriels Rücktritt als Parteivorsitzender und seinem Verzicht auf die Kanzlerkandidatur als besondere Stärke von Martin Schulz, nicht mit der großen Koalition identifiziert zu werden. In der setzte die SPD in ihrer traditionellen Rolle als gesellschaftlicher Betriebsrat der „Deutschland GmbH“ bereits reichlich soziale Gerechtigkeit durch: Dank SPD gibt es in Deutschland seit 2015 einen Mindestlohn, von dem es seit diesem Jahr keine Ausnahme mehr gibt. Dank SPD können Arbeitnehmer, die 45 Jahre lang Beiträge gezahlt haben, mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Und sie hat dafür gesorgt, dass prekäre Beschäftigung besser reguliert wird. Und nichts davon hat ihr in den zurückliegenden Jahren bessere Umfragewerte beschert.
Vielleicht verwechselt Martin Schulz auch etwas: Das Bundeskanzleramt ist nicht der Sitz des deutschen Klassensprechers. Diese Rolle spielte Schulz aber als Präsident des EU-Parlaments, das weder wirklich demokratisch legitimiert ist (dazu müsste es gleich gewählt sein), noch wirklich gesetzgeberische Kraft hat (es kann nicht einmal eigene Gesetzesinitiativen ergreifen). Schulz übte ein zeremonielles Amt ohne Machtperspektive und echte politische Verantwortung aus. Sein Job bestand vor allem daraus, Forderungen an die EU-Kommission zu stellen und sich bei Foto-Terminen auf den gleichen Teppich wie die Regierungschefs zu drängeln.
Um die erfolgreichste Regierungschefin der Europäischen Union abzulösen, müsste Schulz so etwas wie eine Wechselstimmung erzeugen können. Beste Option: Es gibt eine Krise, und der Kandidat kann sich als der verkaufen, der sie löst. Blöd für Schulz: Angela Merkel verspeist Krisen zum Frühstück, zum Mittag und zum Abend. Zweitbeste Option: Eine Idee von Deutschland haben. Die Vision eines Landes formulieren, das Menschen auch in der Digitalisierung einen Job statt längeres Arbeitslosengeld bieten kann. Das Ziel einer neuen Europäischen Ordnung ausmalen, deren besten Jahre erst noch kommen werden, mit einer Zukunft, die Frieden, Freiheit und Sicherheit garantiert. Kurz: ein deutsches „yes, we can“ statt weinerliche Forderungen nach Respekt.
Stattdessen reden sich Martin Schulz und seine Strategen derzeit ein, das unerwartet starke Abschneiden der Labour-Partei — zu dem Schulz’ Jeremy Corbyn als einer der Ersten gratulierte — sei auch für die SPD eine gute Nachricht. Denn entscheidend für den Erfolg von Labour seien soziale Themen gewesen, denen von Schulz gar nicht unähnlich: Studiengebühren abschaffen, sozialere Wirtschaft, mehr Geld ins Gesundheitswesen stecken, komprimiert indem Motto: „For the many, not the few“ (deutsch: Für die Vielen, nicht die Wenigen). Blöd: Ende April urteilte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann noch: „Corbyn ist ein Alt-Linker, der ähnlich wie Wagenknecht Europa als eine Festung des Kapitalismus betrachtet. Er ist deshalb unfähig, die positiven Werte Europas — Frieden, Demokratie, Wohlstand, Reisefreiheit — angemessen zu würdigen.“
Natürlich kann Martin Schulz noch Kanzler werden. Schalke kann ja irgendwann auch noch mal Deutscher Meister werden. Theoretisch.