Interview mit Jürgen Trittin: „Der Joschka war ein Unikat“
Grünen-Fraktionsvizechef Jürgen Trittin über die Fehler der Agenda 2010, das Alpha-Männchen Joschka Fischer und den Zustand der Großen Koalition.
Herr Trittin, auf einer Skala von eins bis zehn: Wie regierungsfähig sind die Grünen, wenn zehn besonders regierungsfähig ist?
Trittin: Ich weiß nicht, ob wir zehn erreichen. Aber dass wir mindestens drei Punkte vor CDU, CSU und SPD liegen, wird kaum jemand bezweifeln angesichts des Stillstands der Koalition.
Sonderlich regierungsfähig sah Ihre Partei aber nicht aus, als die Grünen-Basis der Führung beim Afghanistan-Sonderparteitag in Göttingen die Gefolgschaft versagte. Kann sich so etwas beim Parteitag in Nürnberg nächsten Freitag wiederholen?
Trittin: Nein. Der Unterschied zwischen Göttingen und Nürnberg ist relativ einfach. In Göttingen war der Bundesvorstand zur Frage der Tornado-Einsätze gespalten, nach Nürnberg gehen wir geschlossen.
Hätte ein solches Abstimmungsdebakel wie in Göttingen auch Joschka Fischer unterlaufen können?
Trittin: Auch Joschka hat Abstimmungen verloren - nicht zuletzt gegen den Bundesvorstand, dem ich angehört habe.
Ein Comeback von Joschka Fischer wünschen Sie sich nicht?
Trittin: Es war sein Entschluss aufzuhören. Der Joschka war ein Unikat. Das kommt in dieser Form nie wieder. Die Partei-Spitze heute steht vor anderen Herausforderungen als damals.
Sind die Grünen nach Rot-Grün und Fischer mit sich im Reinen?
Trittin: Die Grünen nutzen jetzt, nachdem sie dieses Land sieben Jahre gut regiert haben, die Gelegenheit, bei einer Reihe von Themen sehr grundsätzliche Debatten zu führen. Das ist gut so.
Distanzieren sich die Grünen nicht zunehmend von Entscheidungen der rot-grünen Regierung - etwa von der Agenda 2010?
Trittin: Es hat richtige Schritte gegeben wie die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld, die Einbeziehung der Sozialhilfeempfänger in die Arbeitsvermittlung oder die Anhebung der Regelsätze für Sozialhilfeempfänger. Es gab aber auch Defizite: zu niedrige Schonvermögen beispielsweise. Wir nehmen Leuten, die Vorsorge getroffen haben, etwas weg, um sie anschließend wieder von Transfereinkommen abhängig zu machen. Auch die Praxis in vielen Job-Centern der Arbeitsagentur hat viel dazu beigetragen, den richtigen Ansatz bei der Schaffung des Arbeitslosengeldes II in Verruf zu bringen.
Würden Sie als Regierungsmitglied heute anders entscheiden?
Trittin: Die Regelsätze für das Arbeitslosengeld II sind zu niedrig. Deshalb werden wir uns in Nürnberg sehr deutlich für eine bedarfsdeckende Grundsicherung in Höhe von 420 Euro und die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns aussprechen.
Wo fühlen Sie sich wohler - in der Regierung oder in der Opposition?
Trittin: Wir haben gesellschaftliche Mehrheiten für einen Mindestlohn, für ein Tempolimit, für eine wirklich ambitionierte Klimapolitik. Doch die Große Koalition bekommt all das nicht hin. Deshalb sage ich: Ich würde lieber regieren.
Hält die Koalition bis 2009?
Trittin: Die Große Koalition hat die Scheidung eingereicht. Anders als in zivilen Trennungen dauert die Scheidungsphase allerdings zwei Jahre. Die Kraft, sich aus dieser Situation zu befreien, hat keine der beiden Parteien, denn beide befürchten, bei vorgezogenen Neuwahlen abgestraft zu werden. Es gibt aber einen kleinen Unterschied. Die SPD muss Neuwahlen stärker fürchten als die Union - und wird von der Union reihenweise gedemütigt.
Kommt ein Lagerwahlkampf?
Trittin: Es zeichnet sich jetzt schon eine Polarisierung ab. Dabei will die Union offensichtlich zum Neoliberalismus zurückkehren, wie ihn den FDP predigt.