Düsseldorf Hannelore Kraft will raus aus der Defensive

Unabhängige Experten sollen Versäumnisse von NRW-Behörden im Fall Amri prüfen.

Hannelore Kraft am Mittwoch bei der Landespressekonferenz im Düsseldorfer Landtag.

Foto: Rolf Vennenbernd

Düsseldorf. Klar — wenn Hannelore Kraft (SPD) und Sylvia Löhrmann (Grüne) gemeinsam ihre Jahresauftakt-Pressekonferenz geben, wollen sie ihre in der rot-grünen Regierung geleistete Arbeit positiv darstellen. Vier Monate vor der NRW-Landtagswahl sowieso. Das versuchen sie denn auch in dem 90-minütigen Doppelauftritt im Landtag.

Als sie etwa von dem Projekt „Kein Kind zurücklassen“, von verbesserten Arbeitsmarktzahlen und Projekten einzelner Regierungsressorts reden. Doch die innere Sicherheit ist das alles beherrschende Thema, das in verschiedenen Facetten daherkommt. Am übersichtlichsten ist da noch der Rückblick auf die Silvesternacht. Brisanter ist freilich der Fall Anis Amri und mögliche Versäumnisse der Behörden. Und wie man mit Gefährdern umgehen soll. Zum Schluss gibt es dann doch noch ein weiches Thema. Aber der Reihe nach.

Der gut vorbereitete und durchgeführte polizeiliche Einsatz in der vergangenen Silvesternacht sei ein Beleg dafür, „dass wir gelernt und reagiert haben“, sagt Kraft mit Blick auf die noch ein Jahr zuvor erfolgten massenhaften sexuellen Übergriffe vor dem Kölner Hauptbahnhof. Sie dankt den Polizeibeamten, die „mit enormer Motivation“ im Einsatz waren. Sie finde es bedauerlich, dass dieser gute Einsatz anschließend „von einer unsäglichen Debatte überlagert wurde. Das hat mich wütend gemacht“. Dabei habe der Einsatz bewiesen: „Wir haben aus Fehlern gelernt.“

Hier steht Krafts Parteifreund, Innenminister Ralf Jäger (SPD), unter erheblichem Druck der Opposition. Der Vorwurf: Ein rechtzeitiges behördliches Zugreifen auf den späteren Attentäter von Berlin hätte die Tat unmöglich gemacht. Amri war zwar als islamistischer Gefährder eingestuft worden, die zuständige Ausländerbehörde in Kleve versuchte aber vergeblich, ihn abzuschieben.

Hätte nicht doch die Möglichkeit bestanden, ihn in länger andauernde Abschiebehaft zu nehmen? NRW-CDU-Chef Armin Laschet sagt dazu: „Herr Jäger hat die rechtlichen Möglichkeiten in seinem Verantwortungsbereich zur Festsetzung von Anis Amri nicht genutzt. Wo die Grenze des Rechtsstaats liegt, entscheiden bei uns die Gerichte. Ralf Jäger hat den Fall Amri nie vor den Richter gebracht.“

Auch der Vorsitzende des Deutschen Richterbunds, Jens Gnisa, hatte in den ARD-Tagesthemen Zweifel geäußert, ob die Behörden hier richtig handelten. Die Frage, ob Amri nicht doch länger in Abschiebehaft hätte genommen werden können, beantwortete Gnisa damit, dass eine solche behördliche Auffassung vertretbar gewesen wäre. Auch wenn nicht klar gewesen wäre, ob sie vor einem Richter Bestand gehabt hätte. Aber, so Gnisa: „Es wäre eine vertretbare Auffassung, die hier nicht verfolgt wurde.“

Die Frage, ob nicht wenigstens der Versuch hätte unternommen werden müssen, einen Richter über die Sache entscheiden zu lassen — auch darum würde es in dem von Kraft vorgeschlagenen externen Gutachtergremium gehen.

Ungeachtet der angekündigten Untersuchung stärkt die Ministerpräsidentin ihrem Innenminister den Rücken. Sie zählt auf, dass Amri auf Initiative von NRW-Behörden als Gefährder in den Fokus der Sicherheitsbehörden kam. Mitte Februar 2016 habe die Polizei in NRW Amri erstmals als Gefährder eingestuft. Als er danach seinen Lebensmittelpunkt in Berlin hatte, sei er im März 2016 als Gefährder in Berlin eingestuft worden. Dem vom NRW-Landeskriminalamt angeregten Strafverfahren wegen einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat habe sich die Generalstaatsanwaltschaft Berlin nicht angeschlossen. Verdeckte Überwachungen in Berlin bis September hätten keine relevanten Ergebnisse gebracht.

Dass keine konkrete Gefährdung erkennbar war, sei vom Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) entschieden worden, in dem 40 Sicherheitsbehörden vertreten sind. „Keine Behörde des Bundes war der Meinung, eine Abschiebungsanordnung sei bei Amri gerichtsfest durchzusetzen“, sagt Kraft. Und Löhrmann ergänzt: „Das GTAZ ist ein Bundesgremium, die Verantwortung hat der Bundesinnenminister.“ Kraft findet die Debatte „schon ein bisschen erstaunlich, dass der schwarze Peter in NRW liegen soll“. Man müsse auch überprüfen, was auf der Bundesebene und im Gefüge der Länder passiert ist.

Im Nachhinein müsse man leider sagen, dass die getroffenen Entscheidungen und Bewertungen falsch waren. Daher stelle man sich als Landesregierung einer unabhängigen fachlichen Überprüfung. So solle geklärt werden, was wo anders hätte laufen können. Und welche Empfehlungen es für die Änderung von Verwaltungsabläufen oder Rechtsänderungen geben soll.

Kraft fordert, dass auf Bundesebene eine bessere Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern bei der Abschiebung sichergestellt werden müsse. Die aktuellen Abkommen stellten das nicht sicher. Ob hier mit dem Druckmittel gearbeitet werden solle, Entwicklungshilfe zu kürzen, das wolle sie nicht von außen vorgeben.

Die Ministerpräsidentin zeigt aber auch auf, welche Probleme der Umgang mit von der Polizei als Gefährdern eingestuften Personen mit sich bringt. Von den Ende 2016 bundesweit identifizierten 549 Gefährdern befänden sich 211 im NRW-Bereich. Davon seinen 72 „aktionsfähig“, also weder in Haft, noch im Ausland. Von diesen 72 hätten allerdings 44 Personen (auch) eine deutsche Staatsangehörigkeit. Was bedeutet: Deutsche Gefährder kann man nicht abschieben und nicht in Abschiebehaft nehmen.

Wenn nun neue Wege gesucht würden, Haftmöglichkeiten auszuweiten, so seien diese Überlegungen richtig, aber rechtsstaatlich eine Gratwanderung, gibt Kraft zu bedenken. Die grüne Vize-Regierungschefin Löhrmann sagt zu den Überlegungen über verschärfte Gesetze: „Wir sagen nicht reflexhaft nein, aber auch nicht unkritisch ja. Es gibt grundsätzlich hohe Hürden für Eingriffe in das Freiheitsrecht. Das ist ganz dünnes Eis.“

Auf dünnes Eis begibt sich schließlich auch ein journalistischer Fragesteller, als er Kraft und Löhrmann fragt, ob sie sich denn eigentlich noch für eine ganze Legislaturperiode von fünf Jahren dem Wählervotum stellen. Kraft antwortet darauf nur, dass sie 55 Jahre alt sei und das schon durchstehe. Und Löhrmann? „Ich werde zwar schon 60 in diesem Jahr, aber ich finde, dafür sehe ich auch noch ziemlich gut aus.“