Kernenergie: Drohte 1978 in Jülich der Gau?
Der Forschungsreaktor soll damals kurz vor einer Katastrophe gestanden haben. Der Bundesumweltminister macht Druck.
Berlin. Vor mehr als 20 Jahren spalteten Physiker im rheinischen Jülich das letzte Atom. Seither ist es still geworden um den Kern des Problems: ein verstrahlter Forschungsreaktor, dessen endgültige Entsorgung bis heute nicht erledigt ist.
Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD), ausgelöst durch den Störfall im Werk Krümmel seit Wochen leidenschaftlich auf dem Anti-Atom-Wahlkampf-Pfad, hat sich des Themas jetzt erinnert. Er will breiten Öffentlichkeit vor Augen führen, welche Kosten und Schwierigkeiten mit der Beseitigung selbst kleinerer nuklearer Hinterlassenschaften verbunden sind. Mit im Visier Gabriels: die Atomaufsicht in NRW.
Besonders brisant wird das Thema durch ein Gutachten des Kernenergie-Experten Rainer Moormann, der selbst bis März in Jülich gearbeitet hat. Seinen Angaben nach ist der Reaktor mit viel zu hohen Temperaturen betrieben worden. Im Mai 1978 sei die Anlage, die wegen der 198 dort eingelagerten kugelförmigen Brennelemente auch "Kugelhaufenreaktor" genannt wurde, womöglich nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschlittert.
Laut Moormann gab es damals ein Leck im Dampferzeuger, bei dem Kühlwasser in den Reaktorkern eindrang, was nur durch Zufall nicht zu einer Kettenreaktion und einem folgenreichen Riss der Reaktorhülle geführt habe.
Wegen der Gefahr einer chemischen Reaktion des Wassers mit dem Graphit des Kerns stelle dieser Vorgang "einen der kritischsten Störfälle für einen Hochtemperatur-Reaktor dar". Der Störfall sei "wahrscheinlich nur deshalb ohne schwere Folgen geblieben, weil der Kern zu diesem Zeitpunkt nur Temperaturen kleiner als 500 Grad Celsius aufwies". Zuvor sollen aber 1100 Grad Celsius im - für nur 900 Grad ausgelegten - Dampferzeuger zum Kühlwasser-Einbruch geführt haben.
Für wie bedrohlich die Entsorger der bundeseigenen Energiewerke Nord (EWN) den Jülicher Reaktor 20 Jahre nach Stilllegung halten, zeigt eine provisorische Sicherheitsmaßnahme: Um die jetzt anstehenden Abrissarbeiten überhaupt zu ermöglichen, wurden 500 Kubikmeter Beton in den Reaktor gekippt.
In Jülich, so bestätigten Fachleute des Umweltministeriums am Sonntag auf Anfrage unserer Zeitung einen entsprechenden "Spiegel"-Bericht, wartet auf die Entsorger der EWN demnächst "eine der schwierigsten Aufgaben, die wir je hatten". Die Experten von EWN-Chef Dieter Rittscher müssen sich darauf einstellen, unter hoher Strahlenbelastung radioaktiven Staub und extrem verseuchte Maschinenteile aus dem verwinkelt gebauten Atommeiler herauszuholen.
Aber nicht nur das: Der Reaktorkern wird in Jülich zurückbleiben - sozusagen als strahlendes Andenken. Mit Spezialkränen, so der Plan, wird das 2000 Tonnen schwere Gebilde quasi aus dem 50 Meter hohen Gebäude geschnitten und danach auf dem Gelände der Forschungseinrichtung strahlendicht eingemauert. Erst in 50, 60 Jahren, so lange muss der Reaktor abklingen, bis er zerlegt werden kann, soll dann endgültig entschieden werden, was mit den Überresten des strahlenden Ungetüm geschieht.
Lagen die veranschlagten Entsorgungskosten laut Umweltministerium vor 20 Jahren noch bei 34 Millionen D-Mark, so sprechen die Experten inzwischen von "mindestens 500 Millionen Euro", über die sich der Bund, das Land NRW und die Atomwirtschaft hinter den Kulissen streiten. Die 15 kommunalen Stadtwerke, die damals in der Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor (AVR) als Betreiber fungierten, sind nur mit Kleingeld vertreten.