Stimmung in den Gesamtschulen ist auf dem Tiefpunkt angelangt

NRW: Gewerkschaften attackieren Ministerin Sommer. Es droht ein neuer Kulturkampf um die Schulform.

Düsseldorf. Nordrhein-Westfalen steht vor einem neuen Kulturkampf um die Gesamtschule. Nach einem heftigen Schlagabtausch zwischen schwarz-gelber Landesregierung und Opposition am Donnerstag im Landtag fuhren gestern Gesamschullehrerverband (GGG) und Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) schwere Geschütze auf. "Das Maß ist übervoll. Die Lehrer fühlen sich in ihrer Arbeit missachtet, die Schüler in ihrer Leistung diskreditiert", beschrieb der GGG-Landeschef Werner Kerski die Stimmung in den Schulen.

Die Kritik hatte sich an Äußerungen von Schulministerin Barbara Sommer (CDU) entzündet, die in ihrer Schuljahrespressekonferenz das Gesamtschul-Abitur als "Light-Version" bezeichnet hatte. Umstritten war vor allem ihre Aussage: "Ich kann das häufig vorgebrachte Argument einer schwierigen Sozialstruktur der Schüler an Gesamtschulen nicht mehr hören. Was ist das für eine Einstellung, wenn man die Schuld für Probleme auf die Herkunft der eigenen Schüler abwälzt?"

Dem widersprach Kerski heftig: "Jugendliche, von denen viele in dem höchst selektiven dreigliedrigen Schulsystem aufgrund ihrer sozialen Herkunft aussortiert würden, haben an der Gesamtschule hervorragende Aussichten auf einen höheren Schulabschluss." Er verwies darauf, dass die Migrantenquote mit 14Prozent fast dreimal so groß sei wie an Gymnasien. Zugleich widersprach Kerski Zahlen der Landesregierung, wonach 40 Prozent der Gesamtschüler in der Oberstufe scheitern. Laut Gewerkschaft verlässt nur jeder zehnte Jugendliche die Oberstufe ohne höherwertigen Abschluss.

Gestützt werden diese Zahlen durch eine Stichprobe, mit der der Verband im Mai die Schulkarrieren von mehr als 2000Oberstufenschülern an 29 der 218 Gesamtschulen in NRW verfolgt hatte. Danach machten 71 Prozent der Schüler das Abitur (63,5Prozent davon im ersten Anlauf). Weitere 19Prozent erreichten die Fachhochschulreife. Doch dieser Abschluss werde von der Ministerin als Misserfolg bewertet, kritisierte Kerski. Dabei würden viele Gesamtschüler ihn ganz bewusst anstreben.

Die Erziehungswissenschaftlerin Gabriele Bellenberg von der Ruhruniversität Bochum räumte ein, dass die Studie nach wissenschaftlichen Kriterien nicht repräsentativ sei. "Die Stichprobe deckt aber alle Regionen und Gesamtschultypen des Landes ab", betonte Bellenberg.

Die bildungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Ingrid Pieper-von Heiden, holte dennoch zum Gegenschlag aus: "Wenn die wissenschaftliche Beratung der Gesamtschulverbände mit solchen Umfragen um die Ecke kommt, darf man sich nicht wundern, wenn die Frage der Chancengerechtigkeit durch das Vornoten-Lifting an manchen Gesamtschulen völlig ausgeblendet wird."

DGB-Landeschef Guntram Schneider forderte Regierungschef Jürgen Rüttgers (CDU) angesichts der "handwerklichen Begrenztheit der Schulpolitik" auf, dem Kulturkampf ein Ende zu setzen. "Der Ministerpräsident sollte die Diskreditierung der Gesamtschule stoppen." Dessen "fortschrittlichen Äußerungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik" passten nicht zu seiner starren Haltung in der Schulpolitik.

Schneider kündigte an, dass die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft der Ministerin am Montag 16000 Protest-Unterschriften überreichen will.