Berlin. Angela Merkel reichte ein Tag, um politisch erwachsen zu werden. Er liegt noch keine zehn Jahre zurück, es war der 22. Dezember 1999. Damals stellte sich die CDU-Generalsekretärin in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung offen gegen Helmut Kohl, ihren tief im Spendenskandal verstrickten Ziehvater. Die Partei müsse sich von ihrem politischen Übervater lösen, forderte sie.
Fortan war Merkel in den Medien nicht mehr "Kohls Mädchen". Die Genialität ihres Schachzugs erkannten viele Beobachter aber erst Monate später, als sie zur Vorsitzenden der CDU aufstieg. Ihr richtungsweisender Artikel war auch eine schlagkräftige Bewerbung um höhere Ämter in der Partei gewesen. Damals, kurz vor der Wahl zur Vorsitzenden, soll Merkel im kleinen Kreis ihrer Vertrauten erstmals über die Kanzlerschaft geredet haben.
Seither wundern sich politische Beobachter über diesen Gegenentwurf eines Spitzenpolitikers: Frau mit DDR-Biografie, mit lange unvorteilhafter Frisur, mit mäßiger Rhetorik - wie konnte sie bloß Kanzlerin werden?
Die Versuche, die Politikerin oder gar den Menschen Merkel zu verstehen, sind oft gescheitert. Seit vier Jahren regiert die heute 55-Jährige Deutschland, zumeist begleitet von guten Umfragewerten - und trotzdem ist sie uns seltsam fremd geblieben. Wer versuchen will, ihr auf den Grund zu gehen, muss in den Kapiteln ihres Lebens nachschlagen, die eigentlich schon lange abgeschlossen sind.
Angela Merkel gilt als völlig "untypische" Ostdeutsche. Nichts an ihr scheint an die DDR zu erinnern, nie trat sie als Interessenvertreterin der neuen Länder auf. Und doch wurde sie von der DDR, die bis zu ihrem 36. Lebensjahr ihren Alltag bestimmte, geprägt: ihr Durchsetzungswille, ihre pragmatische Grundeinstellung, auch ihre Unklarheit bei der politischen Positionierung.
Der Merkel-Biograf Gerd Langguth erklärt, dass ihr der eiserne Wille schon sehr früh antrainiert wurde. Als Tochter eines evangelischen Pfarrers habe sie nicht zu den Bevorzugten im SED-Staat gehört. Um später studieren zu können, musste Merkel immer zu den Besten in der Schule gehören. Sie war früh vom Fleiß getrieben.
Eine zweite Eigenschaft, die man sich in der DDR möglichst schnell aneignete, war die, nie offen Position zu beziehen und misstrauisch zu sein. Auch diese Charakterzüge sind erhalten geblieben: Merkel lässt die Bürger lange über ihre Ziele im unklaren. Und sie fasst nur sehr zögernd Vertrauen zu anderen Menschen. Eine Politiker-Freundschaft à la Schröder-Putin? Für Merkel undenkbar.
Es ist jedoch nicht nur die Weigerung, ihre Positionen klar zu formulieren, die Kritiker der Kanzlerin reizt. Der Vorwurf geht weiter: Sie brauche lange für eine Entscheidung, und es mangele ihr an festen Positionen, sie verkaufe heute etwas als falsch, was sie morgen für richtig hält. Zuletzt zu beobachten bei der Debatte um ein Konjunkturpaket: Monatelang sperrte Merkel sich, um es dann plötzlich mit Verve durchzudrücken.
Auch diese Wankelmütigkeit führt Langguth auf Merkels Sozialisierung in der DDR zurück. Das Scheitern des "real existierenden Sozialismus" habe ihr gezeigt, dass Ideologien zu unflexibel sind, um auf Probleme zu reagieren. Anpassungsfähigkeit und Pragmatismus sind für Merkel daher kein Zeichen von Schwäche, sondern entscheidende Kriterien für den Erfolg.
Mit der Wende in der DDR begann Merkels schneller Einstieg in die Politik. Zunächst als Pressesprecherin beim Demokratischen Aufbruch, dann als Sprecherin der ersten und letzten frei gewählten Regierung der DDR. Nach der Wiedervereinigung wurde sie von Kanzler Kohl entdeckt und völlig überraschend als 36-Jährige zur Ministerin für Frauen und Jugend ernannt. Als "Kohls Mädchen" und ohne jeden Rückhalt in der Partei wurde sie lange belächelt.
Wie ähnlich Merkel ihrem Ziehvater ist, wird wegen ihres völlig anderen Auftretens selten registriert. Tatsächlich aber wurde auch der Pfälzer in der Partei lange unterschätzt. Seine Gegner bemerkten seine Härte erst, als er sie beiseite räumte. Helmut Kohl gewann seine entscheidende Kraftprobe gegen Franz Josef Strauß, Angela Merkel ihre nach der Wahl 2002 gegen Edmund Stoiber und Friedrich Merz.
Seither scharen sich Ministerpräsidenten und CDU-Größen hinter ihr. Die Männerriege hat gelernt: Wer gegen sie ist, kann seine Parteikarriere ad acta legen. Wie sie das macht? Lothar de Maizière, der letzte DDR-Ministerpräsident, sagte einmal über sie: "Ihr Trickreichtum besteht in Wahrheit darin, dass sie völlig ohne Tricks arbeitet." In der großen Politik eigentlich unvorstellbar. Also genau passend zu dem Mysterium Merkel.