Politik „Friedrich Merz hat sich nicht immer unter Kontrolle“

Interview | KREFELD · Achim Post, SPD-Chef in NRW und Bundestagsabgeordneter, über Lust und Last der Ampelkoalition in Berlin, Europawahlen und die Schuldenbremse

SPD-Politiker Achim Post (l.) im Gespräch mit Olaf Kupfer in der Redaktion.

Foto: Andreas Bischof

Finanzpolitiker Achim Post (SPD) ist Co-Vorsitzender der NRW SPD und seit vielen Jahren im Bundestag – nahe an Kanzler Olaf Scholz. In der Redaktion in Krefeld spricht er auch über die Altschuldenproblematik der NRW-Kommunen – und die tätlichen Angriffe auf Politiker.

Herr Post, Politiker und Plakatkleber werden neuerdinge zunehmend angegriffen. Was ist zu tun?

Achim Post: Das hat sich deutlich verändert in den letzten Monaten, gerade seit der Landtagswahl 2022. Unser SPD-Europapolitiker Matthias Ecke in Sachsen ist der prominenteste Fall, aber es passiert täglich, dass Mandatsträger angegriffen, bedroht oder bepöbelt werden. Auch in NRW gibt es Vorfälle an unseren SPD-Büros. In Mönchengladbach lag ein Brandsatz mit Streichhölzern vor der Tür des Unterbezirksbüros. In Hamm wurden die Scheiben eingeschmissen. Und jetzt werden die Wahlplakate nicht mehr nur beschädigt, sondern sofort etwa mit Hakenkreuzen beschmiert. Eine neue Qualität.

Was schlagen Sie vor, dagegen zu tun?

Post: Man muss es nachhaltig ernst nehmen. Empörungskonjunktur hilft nicht. Die Saat, die das braune Netzwerk mit ihrem parlamentarischen Arm seit Jahren sät, geht auf. Deshalb braucht es Demokratieförderung. Die Zivilgesellschaft muss gestärkt werden. Aber auch der Rechtsstaat muss durchgreifen. Am Ende läuft es auf eine Mischung von rechtsstaatlichen- und bildungspolitischen Maßnahmen hinaus.

Die Europawahl steht vor der Tür. Noch ist das Interesse gering, wie man allenthalben hört.

Post: Diese Europawahl ist atypisch. Ich erzähle seit Jahrzehnten auf allen Veranstaltungen, dass die Europawahl sehr wichtig ist. Aber dieses Mal ist sie es definitiv.

Warum?

Post: Man muss verhindern, dass die beiden rechtsradikalen Gruppen im Parlament stärker werden. Und wir erleben jetzt den Tabubruch: Zum ersten Mal sagt eine der beiden großen Parteien, in diesem Fall Ursula von der Leyen von der Union, dass sie sich offen hält, mit Teilen dieser Rechtsradikalen ein Bündnis einzugehen. Helmut Kohl würde sich im Grabe umdrehen. Man kann nicht über eine Brandmauer hier in den Kommunen, im Land oder im Bund reden und in Europa eher Brandstifter sein, wie ich das Manfred Weber zuschreibe, dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden der konservativen Parteienfamilie.

Was ist Ihr Ziel bei der Europawahl?

Post: Deutlich besser zu werden als beim letzten Mal. 2019 hatten wir 15,8 Prozent. Und inhaltlich brauchen wir eine Europäische Kommission, die eine proaktive Wirtschafts- und Industriepolitik betreibt. Wir reden hier über Stahl bei Thyssenkrupp, BP in Gelsenkirchen, Miele in Ostwestfalen oder Bayer hier vor Ort. Hier stehen Arbeitsplätze auf dem Spiel und die Beschäftigten brauchen eine starke Industrie- und Standortpolitik auch in Brüssel, die sich für sie einsetzt.

Junge-Union-Chef Johannes Winkel sprach angesichts des Green Deals der EU davon, es brauche mehr Deal und weniger Green.

Post: Das würde ich nicht gegeneinander ausspielen. Aber klar ist, dass die Konservativen ihrer jetzigen Kommissionspräsidentin viel Misstrauen entgegenbringen, die den Green Deal verhandelt hat. Hier drohen wir, in alte Zeiten zurückzufallen. Dabei müssen wir gerade bei den großen Fragen enger zusammenrücken. Auch beim Klimaschutz. Europa muss nicht nur angesichts der Kriege viel mehr zusammen machen, so schwierig das auch sein mag.

Aber müsste Kanzler Olaf Scholz dafür nicht viel enger mit Frankreich zusammenarbeiten und voranschreiten? Das scheint ein Problem zu sein.

Post: Das deutsch-französische Verhältnis ist schon immer komplex und oft auch nicht ganz einfach gewesen. Bei Gerhard Schröder und Jacques Chirac war es vor dem Irak-Krieg gelegentlich schwierig. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy – das war auch keine Liebesbeziehung. Wir reden ja meist nur über die befreundeten Paare: Helmut Kohl und Francois Mitterrand, Helmut Schmidt mit Giscard d‘Estaing. Aber in der Sache klappt auch zwischen einem Franzosen und einem Hanseaten jetzt durchaus vieles: Die ganzen Sanktionspakete oder die Corona-Pakete wären nie ohne Olaf Scholz und dem damaligen französischen Finanzminister gelaufen. Auch die Abschlüsse bei Panzer- und Flugzeugprojekten wären ohne Scholz und Macron nicht möglich gewesen. Und beide stehen für eines ganz klar: Einen Kurs der Stärkung Europas und der EU. Also: Es ruckelt in der Außenansicht gelegentlich, in der Sache geht aber schon Einiges gut voran.

Es ruckelt auch in der Bundesregierung. Läuft es hier auch besser, als es die Außensicht hergibt?

Post: Klar ist doch wohl, dass es in Anbetracht der derzeitigen Umfragen absehbar erst einmal keine herkömmlichen Bündnisse mehr links oder rechts der Mitte geben wird. Nicht zwischen CDU und FDP. Und nicht zwischen SPD und Grünen. Es gibt also entweder eine Große Koalition oder ein Dreierbündnis. Alles ist heterogener geworden. Schwieriger ist also normal.

Und der tägliche Streit auch?

Post: Die Koalitionsverhandlungen liefen besser als gedacht, danach hat es sich verflüchtigt. Und mit dem Heizungsgesetz war der Streit dann offensichtlich. Ich finde auch, dass wir uns zu viel streiten. Ergebnisse bekommen wir trotzdem hin.

Warum schlägt Scholz nicht auf den Tisch?

Post: Schon Willy Brandt hat gesagt, dass der Tisch davon nicht beeindruckt ist, wenn man auf ihn haut.

Aber vielleicht Herr Lindner oder Herr Habeck.

Post: Im September 2025 haben wir eine nächste Bundestagswahl. Umso näher die rückt, desto mehr werden die Parteien ihre eigenen Punkte klar machen.

Dadurch wird es aber doch nicht leichter.

Post: Aber vielleicht klarer. Es ist normal, dass Parteien ihre Punkte für sich definieren, das macht die FDP vor dem Parteitag, das haben wir auch gemacht, als wir kürzlich mit den Landesverbänden NRW und Niedersachsen und dem Kanzler auf Klausurtagung waren. Am Schluss muss man sehen, dass daraus im Kompromiss Koalitionsbeschlüsse werden.

Haben alle daran noch ein Interesse?

Post: Mein Eindruck ist: ja.

Beim Thema Schuldenbremse droht es zu eskalieren. Die Positionen sind doch nicht überein zu bringen.

Post: Die Schuldenbremse ist aus der Zeit der Griechenlandkrise. Jetzt haben wir ein Investitions- und Wachstumsproblem. Ich halte es für einen gangbaren Weg, die Schuldenbremse wegen der besonderen Notlage im Ukraine-Krieg erneut außer Kraft zu setzen. Deutschland ist das einzige Land mit dieser starren Schuldenregel, die den Aufschwung gefährdet. Wir wollen in die Zukunft investieren und das Geld nicht aus dem Fenster werfen. Darum geht es uns bei einer Reform. Es gibt im Übrigen fast kein Wirtschaftsinstitut mehr, das das nicht empfiehlt.

Finanzminister Lindner würde sagen, wenn die Tür einmal geöffnet ist, gibt es diese Zwischenschritte eben nicht mehr.

Post: Wir müssen jetzt mehr Investitionen in die Zukunft unseres Landes mobilisieren. Deshalb schlagen wir als SPD-Fraktion einen Deutschlandfonds vor. Und in NRW einen Investitions- und Stabilitätsfonds in Höhe von 30 Milliarden Euro. Darüber könnte sich Hendrik Wüst auch mal Gedanken machen. Der wäre nicht relevant für die Schuldenbremsen, sondern zum Beispiel über die NRW-Bank finanzierbar. Und im Bund können wir das etwa über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) machen oder andere Organisationen, um dann privates Kapital einzusammeln. Diese Investitionen gehen bisher zu oft an Deutschland vorbei. Auch deshalb brauchen wir einen europäischen Kapitalmarkt.

Ist die SPD bald wieder in einer Großen Koalition Juniorpartner?

Post: Unser Ziel ist es, bei der nächsten Bundestagswahl erneut stärkste Kraft zu werden. Aber ich glaube, dass Friedrich Merz nicht der einzige ist, der sich eine Koalition mit der SPD vorstellen kann. Nur reicht es nicht, staatsmännische Reden zu halten. Wenn man Regierungspartner werden will, muss man sich auch staatsmännisch verhalten.

Sonst kommt er nicht infrage für Sie?

Post: Sonst kommt er für die Deutschen nicht infrage. Friedrich Merz hat einen großen Nachteil: Er hat sich nicht immer unter Kontrolle.

Was muss passieren, damit Scholz Kanzler bleiben kann? Sie sind weit entfernt davon derzeit.

Post: Das waren wir im Jahr vor der letzten Bundestagswahl auch. Scholz hat sich schon im letzten Wahlkampf nicht aus der Ruhe bringen lassen. Und ich weiß, wovon ich da rede. So wird es auch jetzt sein.

Der Streit um die Altschulden in NRW geht weiter. Bund und Land haben eine Lösung versprochen. Wo ist sie?

Post: Das muss man jetzt umsetzen. Der Ball liegt hier vor allen bei Herrn Wüst und Herrn Merz. Der beste Zeitpunkt, den es dafür gab, als die Zinsen niedrig waren, ist vorbei. Damals hatten wir eine Altschuldenlösung im Bund eigentlich klar, aber Markus Söder wollte es auf keinen Fall, Angela Merkel auch nicht wirklich. Und Armin Laschet hat zu wenig dafür gekämpft. Das ist jetzt auch so: Herr Wüst lässt sämtlichen Kampfeswillen bei diesem wichtigen Thema vermissen. Und Merz bewegt sich nicht. Klar ist: Es gibt einen eindeutigen Ampel-Vorschlag, zu dem auch Christian Lindner steht. Aber es muss eben auch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag für eine Grundgesetzänderung her. Dafür brauchen wir die Union. Es gibt eine ausgestreckte Hand des Bundes. Viele Länder haben beim Thema Altschulden schon eigene Initiativen ergriffen, NRW noch nicht, obwohl das Land mit weitem Abstand der größte Profiteur wäre. Wenn ich in anderen Ländern erzähle, was mittelgroße Städte in NRW für Kassenkredite haben, dann glauben die das gar nicht.

Auch im Bundeshaushalt muss extrem gespart werden. Wird das was oder zerbricht daran die Koalition?

Post: Im nächsten Jahr soll der Bundeshaushalt um 25 Milliarden Euro kleiner sein als in diesem Jahr. Es wird der schwerste Haushalt seit vielen Jahren. Und es muss ein Haushalt werden, der sich auch den Herausforderungen der Zeit stellt, indem er die äußere, innere und soziale Sicherheit stärkt. Dazu brauchen wir dann aber auch die notwendigen Mittel. Ein Weg wäre wie gesagt ein neuer Beschluss der Notlagen-Regel. Die Gelder, mit denen wir die Ukraine unterstützen, können wir dann für Investitionen nutzen.

Lässt sich das durchsetzen, Herr Post?

Post: Ich bin zuversichtlich. Es ist doch so: Wir haben noch Auswirkungen von Corona, Kosten für Verteidigung und Innere Sicherheit, den Ukrainekrieg, die Lage im Nahen Osten und mittlerweile drei Fluten. Für solche Zeiten wurde die Notlagen-Regel im Grundgesetz verankert.

Die SPD in NRW steht in Umfragen nicht gut da. Sie sind noch nicht so lange neuer SPD-Chef in Nordrhein-Westfalen im Duo mit Sarah Philipp. Wie wollen Sie die Regierung angreifen?

Post: Die Wüst-Regierung ist doch mehr Schein als Sein. Ich verlange eine proaktive Politik für Kommunen und die Industrie. Wir sind das größte Bundesland. Warum stehen wir in Sachen Wachstum weit hinten und das beunruhigt in der Landesregierung niemanden? Wenn ich sehe, was in den letzten zwei Jahren für Investitionen und Unternehmensansiedlungen nach Ostdeutschland gegangen ist und ich dagegen NRW sehe, dann ist da eine klare Diskrepanz. Die Stimme für NRW in Berlin ist zu schwach. Auch deshalb ist für mich klar: Hendrik Wüst wird nicht Kanzlerkandidat. Nett formuliert: Das ist kein Sieg für ihn. Denn mein Eindruck ist: eigentlich wäre er es schon gern geworden.

Die SPD ist aber weit abgeschlagen.

Post: Das ist bei uns eine Aufgabe, die man nicht in wenigen Wochen erledigt. Wir sind zur Teampartei geworden und spielen wieder auf Angriff. Und jetzt kommt Schritt zwei: die nächsten Wahlen.