Reichen 132 Euro im Monat?
soziales Eine Studie berechnet die Sätze für Hartz IV neu und sorgt für heftige Proteste.
Berlin. Seine Publikationsliste belegt, dass sich Professor Friedrich Thießen während seiner akademischen Laufbahn ausgiebig mit dem Geld-, Bank- und Börsenwesen befasst hat. Der Wirtschaftswissenschaftler an der TU Chemnitz ist Gründer eines Studiengangs für "Investment Banking in Deutschland". Einer seiner Beiträge trägt die Überschrift: "Die Macht der Kurven - Anregende Beobachtungen rund um den Aktienmarkt."
Nun hat sich Thießen mit einem sozialpolitischen Thema beschäftigt: Hartz IV. Gemeinsam mit dem Diplom-Kaufmann Christian Fischer legte er "eine Neuberechnung" für "die Höhe der sozialen Mindestsicherung" vor und kam zu dem überraschenden Ergebnis: 132 Euro monatlich müssten zur Existenzsicherung ausreichen, maximal benötigt werden 278 Euro.
"Grundlage der Untersuchung" sei "ein gesundes, rational handelndes Individuum" mit einer Körpergröße von 1,70 Metern bei 70 Kilo Körpergewicht, "deutschen Verbrauchsgewohnheiten", "frei von Sucht- oder anderen Erkrankungen", heißt es in der Studie.
Die Wissenschaftler entwickelten zwei "Warenkörbe", um den minimalen und maximalen Bedarf eines Hartz-IV-Empfängers zu definieren. Die Preise für Lebensmittel, Kleidung, Möbel oder Hygieneartikel ermittelten die Wissenschaftler bei Discountern, Billig-Ketten und Restpostenmärkten in Chemnitz.
Für die minimale Existenzsicherung galt die Regel: kein Alkohol und Tabak. Für Freizeit, Unterhaltung und Kultur wurden ein, für die Kommunikation zwei Euro im Monat veranschlagt. Die Berechnung bezieht sich auf das Jahr 2006. Damals belief sich der Regelsatz im Westen auf 345 und im Osten Deutschlands auf 331Euro.
Peter Neher, Caritasverband
Doch reichen 132 Euro im Monat zum Leben? "Wer solche Berechnungen anstellt, kennt den Alltag von Menschen nicht, die Hartz IV bekommen", schimpfte Peter Neher, der Präsident des Deutschen Caritasverbandes. Für die Betroffenen sei es schon jetzt nicht einfach, bis zum Monatsende mit dem Geld auszukommen. Die Caritas fordert schon seit einiger Zeit eine Erhöhung der Regelsätze. "Zum Leben gehört mehr als Nahrung", sagte Neher. "Die Menschen müssen am kulturellen und sozialen Leben der Gesellschaft teilhaben können."
Der sozialpolitische Sprecher der Grünen, Markus Kurth, nannte die Studie unseriös. "Stichprobenartige, eher zufällig aufgespürte Schnäppchen in Chemnitz haben mit einer seriösen, für bundesweite Maßstäbe tauglichen Bedarfserhebung nichts zu tun", kritisierte er. Es sei völlig weltfremd zu glauben, man könne "in einer Zwölf-Euro-Hose" zu einem Vorstellungsgespräch gehen. "Die staatlich besoldeten Wissenschaftler sollten einmal versuchen, einen Monat von Hartz IV zu leben", empfahl Kurth. Ähnlich bissig formulierten der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Deutsche Gewerkschaftsbund ihre Kritik.
Die Wissenschaftler zeigten sich überrascht von den wütenden Protesten und erklärten, die Studie sei "teilweise sinnentstellt dargestellt worden". Es sei nicht Absicht gewesen, Betroffene zu kränken. Es sei darum gegangen, "unser Sozialsystem positiv nach vorne zu entwickeln". Unter anderem legten die Forscher nahe, staatliche Zahlungen an Gegenleistungen zu koppeln. "Transferzahlungen erhält, wer sich der Gemeinschaft im Rahmen seiner Möglichkeiten zur Verfügung stellt", heißt es in der Studie.
Hätte Professor Thießen die heftigen Reaktionen vorhersehen müssen? Immerhin hat er vor Jahren einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel: "Mit Geldzählen ist es nicht getan."