Analyse Warum das Grundgesetz nicht in Stein gemeißelt ist

Berlin · Klimaschutz, Föderalismus, Verstaatlichung: Der Bundestag debattiert über mögliche Änderungen der Verfassung.

Konrad Adenauer, Präsident des Parlamentarischen Rates, unterzeichnet am 23. Mai 1949 in Bonn das Grundgesetz.

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Keine Feierstunde, keine Blümchen. Zwar sitzt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nebst Gattin auf der Tribüne, doch unten findet zum 70. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes eine ganz normale Debatte um die Verfassung der Deutschen statt. Ziemlich intensiv und manchmal sogar kontrovers.

Zwar würdigen alle Redner, dass das Grundgesetz dem Land Demokratie, Freiheit und Wohlstand gebracht habe, es geht aber auch um echte oder vermeintliche Schwächen des vom Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 verabschiedeten Textes – am 23. Mai wurde das Grundgesetz verkündet und trat somit in Kraft. Eine simple Schwäche nennt FDP-Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann. In Polen zum Beispiel seien missliebige Richter über simple Verfahrensänderungen wie die Absenkung der Altersgrenze aus ihren Ämtern entfernt worden. „Wäre das auch bei uns möglich?“, fragt Buschmann und antwortet selbst: „Ja“. Also müsse man hier über Nachbesserungen nachdenken.

Zwar gibt AfD-Chef Alexander Gauland ein klares Bekenntnis zum Grundgesetz ab („Eine neue und bessere Verfassung werden wir nicht bekommen“), doch spielt das Erstarken der Rechtspopulisten in vielen  Beiträgen der anderen Redner eine Rolle. Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus zum Beispiel sagt, das Grundgesetz sei ein „umfassendes Nie wieder“ aus den Erfahrungen mit der Nazi-Zeit. Dazu gehöre auch eine klare Absage an eine destruktive Parlamentsarbeit. „Wir müssen dafür sorgen, dass es bei dieser klaren Absage bleibt.“ Hintergrund ist der „Krieg“, den Gauland erklärt hat, weil die anderen Parteien bisher jeden AfD-Kandidaten für den Posten des stellvertretenden Bundestagspräsidenten haben durchfallen lassen.

Merkel lässt sich ein Exemplar
des Grundgesetzes bringen

Brinkhaus äußert die Sorge, dass Verdruss an der Politik die Basis der Demokratie aushöhlen könnte. Wie damit umzugehen ist, sagt er freilich nicht. Er macht nur den Vorschlag, noch einmal eine Föderalismuskommission einzurichten. Dort solle es um klarere Zuständigkeiten und eindeutigere Finanzierungsregeln zwischen Bund und Ländern gehen.

FDP-Chef Christian Lindner geht freudig auf den Vorschlag ein – er will dann aber auch den Ländern einen Teil ihrer  Bildungshoheit nehmen und mehr Wettbewerbsföderalismus schaffen, bis hin zu regionalen Hebesätzen bei der Einkommenssteuer. Man ahnt bei diesen Beiträgen, dass es bei den bisher 63 Grundgesetzänderungen seit 1949 nicht bleiben wird. Es gibt immer wieder neue Themen. Angela Merkel, die nicht in die Debatte eingreift, lässt sich nach 45 Minuten von einer Saalhelferin ein Exemplar des Grundgesetzes bringen, wohl um einige Artikel noch einmal genau nachzulesen.

SPD-Chefin Andrea Nahles lobt die „Schönheit der Sprache“ des 70 Jahre alten Werkes und nennt als Reformbedarf nur die Einfügung der Kinderrechte. Ansonsten fordert sie, dass sich die Politik in der Praxis mehr an die Vorgaben halten solle. „Es liegt nicht am Grundgesetz, es liegt an der Umsetzung“, sagt die Sozialdemokratin und schlägt zum Beispiel  Paritätsregelungen für Kandidatenlisten vor, um der  Gleichstellung von Frauen und  Männern auch in den Parlamenten Geltung zu verschaffen.

Der Vorsitzende der SPD-Jungsozialisten, Kevin Kühnert, ist zwar gar nicht anwesend, aber verantwortlich für einen weiteren wichtigen Teil der Debatte. Wie sozial oder gar sozialistisch ist das Grundgesetz? Kühnerts Vorschlag, Großkonzerne zu enteignen, hat die FDP mobilisiert. Sie will den Artikel 15, der die Verstaatlichung von Grund und Boden erlaubt, ersatzlos streichen. Das sei aus dem damaligen Zeitgeist formuliert worden, erklärt Lindner.

Heftige Gegenwehr kommt von Links-Fraktionschef Dietmar Bartsch. Es gehe nur darum, „zu vergesellschaften, wenn andere Systeme versagen“. Die Verfasser des Grundgesetzes hätten sich mit dem Artikel 15 sehr wohl etwas gedacht, „nämlich, dass das Gemeinwesen über Kapitalinteressen stehen muss“. Die eigentliche Gefahr für den sozialen Charakter der Verfassung gehe eher vom Neoliberalismus aus. Etwas weniger hart  formuliert es Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, die den Klimaschutz in die Verfassung aufnehmen will: „Es geht um den Ausgleich zwischen Individuum und Gemeinsinn.“