Zeit für „seelische Erhebung“

Das Verfassungsgericht setzt den Landesgesetzgebern engere Grenzen.

Karlsruhe. Als das Bundesverfassungsgericht über den verkaufsoffenen Sonntag entschied, da ging es zwar nur um ein Berliner Landesgesetz. Doch die Pflöcke, die die Richter einschlugen, gelten bundesweit: Kein Landesgesetzgeber kann sich erlauben, so weit wie Berlin zu gehen und alle vier Adventssonntage zum Shoppen freizugeben. Auch in der Hauptstadt ist das nur noch in diesem Jahr der Fall.

In Berlin können die Geschäfte zwar weiterhin an acht Sonntagen öffnen, aber nicht an zwei direkt aufeinander folgenden. In der Adventszeit sind damit maximal zwei geöffnete Sonntage möglich. Neben den acht offenen Sonntagen können Berliner Händler zwei weitere für Straßenfeste oder Jubiläen beantragen.

Für Nordrhein-Westfalen hat das Urteil keine unmittelbaren Folgen. Unser Land erweist sich jedenfalls im Vergleich zur Berliner Regelung als gemäßigt. Nach dem NRW-Landesgesetz über die Ladenöffnungszeiten darf jährlich nur an vier Sonn- und Feiertagen bis zu maximal fünf Stunden verkauft werden. Und es darf auch nicht mehr als einer der Adventssonntage unter diesen Tagen sein.

Nun könnte der liberale Koalitionspartner in Düsseldorf auf die Idee kommen, die immerhin von den Karlsruher Richtern abgenickten jährlich acht verkaufsoffenen Sonntage ins Gesetz zu schreiben. Doch hier winkt Dietmar Brockes, wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Landtag, bereits ab: "Eine Veränderung des Gesetzes steht nicht zur Debatte."

Für eine solche Zurückhaltung gibt es gute Gründe, die die Karlsruher Richter denn auch in ihr 30 Seiten langes Urteil schrieben. Geklagt hatten die evangelische und die katholische Kirche. Deren Hauptargumente: Den Kirchen müsse die Möglichkeit gesichert werden, die vom Werktag unterschiedenen Sonntage nach ihrem Selbstverständnis zu begehen und dabei ihre Gläubigen tatsächlich erreichen zu können.

Der Sonntagsschutz erstrecke sich auf den ganzen Tag, weil er über den Gottesdienst hinaus auch andere Güter schütze: die Familie, die Aktivitäten kirchlicher Vereine, kirchliche Feiern außerhalb der Hauptgottesdienstzeiten bis hin zur Möglichkeit der "ruhigen Einkehr".

So ist es, bestätigten die Richter und argumentierten dabei nicht nur aus dem Blickwinkel des Schutzes der Religionsfreiheit: Das Erreichen des Ziels des Sonntagsschutzes, und zwar sowohl des religiös wie des weltlich motivierten, setze das Ruhen der typischen werktäglichen Geschäftigkeit voraus. Von der Ladenöffnung gehe eine für jedermann wahrnehmbare "Geschäftigkeits- und Betriebsamkeitswirkung" aus, die typischerweise den Werktagen zugeordnet wird.

Und das betreffe bei weitem nicht nur die Arbeitnehmer, die am Sonntag arbeiten müssen, sondern auch das sonstige soziale Leben: die Kunden, den Straßenverkehr und den öffentlichen Personennahverkehr, auf dessen Beschäftigte sich die Ladenöffnung ja auch auswirke. Hinzu komme der durch den Verkehr verursachte Lärm. Die Richter weisen darauf hin, dass die Ladenöffnung maßgeblich das öffentliche Bild des Tages bestimmt. Damit würden auch diejenigen betroffen, die weder arbeiten müssen noch einkaufen wollen, sondern Ruhe suchen.

Aber wir wollen doch nur das Beste für Berlin, hatte dagegen die rot-rote Landesregierung argumentiert. Die liberale Ladenöffnungs-Regelung locke zahlreiche Touristen nach Berlin. Die Richter hingegen stellten klar: In der Abwägung mit dem Sonntagsschutz, der Möglichkeit zu "seelischer Erhebung" seien das Umsatzinteresse auf Händlerseite und das "Shopping-Interesse" potenzieller Kunden geringer zu bewerten.