Wenn die Eltern trinken: „Hol' Dir Unterstützung!“
Frankfurt/Marburg (dpa) - Etwa jedes sechste Kind in Deutschland lebt in einer Familie mit einem suchtkranken Elternteil. Die Jungen und Mädchen werden mit Schuldgefühlen und Scham groß und dann oft selbst abhängig.
Das Tabu-Thema steht im Mittelpunkt einer Aktionswoche.
Schon als Achtjährige musste Paula ihre drei jüngeren Geschwister versorgen und neben den Hausaufgaben noch den Haushalt schmeißen. Mit elf Jahren wirkte sie so erwachsen, dass sie immer für viel älter gehalten wurde. Paulas Eltern sind suchtkrank. Etwa jedes sechste Kind in Deutschland wächst Schätzungen zufolge in einer Familie mit mindestens einem alkohol-, drogen- oder medikamentenabhängigen Elternteil auf. Das sind ungefähr 2,6 Millionen Kinder, von denen sich viele weder Freunden, noch Lehrern, Erziehern oder Trainern anvertrauen. Das Tabu-Thema steht im Mittelpunkt einer bundesweiten Aktionswoche (13. bis 19. Februar).
„Kinder suchtkranker Erwachsener übernehmen sehr früh Verantwortung für ihre Eltern“, sagt der Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen (HLS), Wolfgang Schmidt-Rosengarten. Sie sind oft mit den vielfältigen Aufgaben überfordert, haben kaum Zeit für Freunde und Hobbys und übergehen ihre eigenen Bedürfnisse. „Sie schämen sich für ihre Eltern und versuchen zugleich alles, um sie zu schützen“, ergänzt Judith Klingelhöfer-Eckhardt von Drachenherz in Marburg, einer Beratungsstelle des Blauen Kreuzes, die sich ausschließlich um Kinder Suchtkranker kümmert. „Innerlich quält sie das Gefühl, anders zu sein als andere Kinder, nicht normal und nicht liebenswert zu sein.“
Um die betroffenen Kinder und Jugendlichen altersgemäß anzusprechen, hat die HLS zur Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien drei großformatige Fotostorys mit typischen Alltagssituationen der Betroffenen erarbeiten lassen. Viele Suchtkranke schämten sich und wollten daher nicht, dass ihre Kinder darüber redeten, heißt es am Ende der Bild-Geschichten. Und so hielten viele Kinder dicht. „Aber auch Dir muss es gut gehen. Darauf hast Du ein Recht! Hol' Dir Unterstützung!“, fordern die Fachleute in der sechsseitigen Broschüre, die mit Unterstützung der Techniker Krankenkasse finanziert wurde.
„Alkohol erzeugt viel Aggressionen, die die Kinder spüren“, berichtet Schmidt-Rosengarten. „Viele leben in ständiger Unsicherheit, was ihre betrunkenen Eltern im nächsten Moment tun werden.“ Wie Marie, deren Mutter alkoholkrank ist. „Sie haben sich gestritten, Sachen sind durch die Gegend geflogen, es war laut. Das ging meist bis spät in die Nacht hinein“, erzählt die 16-Jährige. „Mit der Zeit habe ich mich in mir selber verkrochen und war immer sehr ruhig. Und immer hatte ich das Gefühl, dass ich daran schuld bin, dass meine Eltern trinken.“
„Ein Drittel der Kinder werden später selbst suchtkrank“, sagt Schmidt-Rosengarten. „Ein anderes Drittel zeigt psychische oder soziale Störungen.“ Viele suchen sich auch einen Süchtigen als Lebenspartner und versuchen diesen - wie früher die Eltern - zu retten. Sie können sich oft nur schwer an jemanden binden. „Sie haben gelernt, jederzeit damit rechnen zu müssen, dass der Himmel einstürzt.“
Information:
Die drei Broschüren mit den Titeln „Warum Paul nicht mehr zum Skaten kommt“, „Warum Marie sich um ihre kleine Schwester kümmern muss“ und „Warum Nils so schlecht in Mathe ist“ können auf der Homepage der HLS kostenlos herunter geladen werden. Dort finden sich auch Hilfsangebote für Kinder suchtkranker Erwachsener.