Zockermarkt oder Wachstumsbörse? Neuer Markt vor zehn Jahren beerdigt

Frankfurt/Main (dpa) - Er brachte Goldgräberstimmung an die Börse und verbrannte letztlich Milliarden: Im März 1997 eröffnet, wurde der Neue Markt am 5. Juni 2003 geschlossen. Viele Anleger lassen seitdem die Finger von Aktien.

Am 10. März 1997 knallen auf dem Frankfurter Parkett die Sektkorken: Mit dem Mobilcom-Börsengang ist der Neue Markt eröffnet. Der Aktienkurs des Mobilfunkanbieters schießt im ersten Börsenjahr um sagenhafte 2800 Prozent in die Höhe. Euphorie und Goldgräberstimmung machen sich breit, die Aussicht auf schnellen Reichtum lockt auch tausende Privatanleger in Aktien.

Heute erinnern sich viele Anleger mit Grausen an die hochgejubelte „New Economy“ - oder an Kuriositäten wie das Brettspiel „Wie verbrenne ich eine Million“, das die Internetfirma Concept laut Medienberichten auf der Feier zum Börsengang Ende März 2000 verschenkte. Der Neue Markt selbst ist seit dem 5. Juni 2003 Geschichte.

Dabei war die Idee des Börsensegments gut: Rasch wachsende Mittelständler - vor allem aus den Branchen Umwelttechnik, Telekommunikation, Biotechnologie und Multimedia - sollten sich besser mit Risikokapital versorgen können. Die Erfolgsgeschichte mancher Biotech- oder IT-Firmen sei ohne den Neuen Markt nicht denkbar, meint Dirk Schiereck, Professor für Unternehmensfinanzierung an der TU Darmstadt: „Es sind eine ganze Reihe von Unternehmen dazugekommen, die den Kurszettel dauerhaft verlängert haben.“

Das Segment wuchs rasant: Im März 1999 schon waren 73 Unternehmen am Neuen Markt notiert, ein Jahr später 226 und am 10. März 2001 dann 337. Die Aktionärszahl in Deutschland erhöht sich sprunghaft von 5,6 Millionen 1997 auf den Rekordstand von fast 12,9 Millionen im Jahr 2001 - eine „Milchmädchen-Hausse“, wie Ökonomen später urteilen.

Endlich, so der damalige Deutsche-Börse-Chef Werner Seifert ein Jahr nach Eröffnung des Neuen Marktes, sei in Deutschland gelungen, was die USA mit der Technologiebörse Nasdaq bereits Anfang der 70er Jahre etabliert hatten: „Kapital wird mit Ideen zusammengebracht.“

Zum fünften Jubiläum 2002 jubelte die Deutsche Börse in einer Broschüre: „Trotz aller Kritik: Am Neuen Markt führt in Europa kein Weg vorbei.“ Die „gesetzten Standards waren und sind beispielhaft“, der Neue Markt habe „auch breite Bevölkerungskreise für das Thema Aktien begeistert“, das Segment habe „alle Chancen, auch die nächsten fünf Jahre seine dominierende Rolle in Europa zu behaupten“.

Dabei bestimmte inzwischen Skepsis die Berichterstattung über den Neuen Markt: „Hort der Gierigen“ („Die Zeit“/1999), „Die Geldschluckmaschine“ („Der Spiegel“/2001), „Von Schauspielern und Scharlatanen“ („Die Welt“/2002). Weiteres Warnsignal: Eine Studie der Privatuni Witten-Herdecke aus dem Jahr 2000. Die Wissenschaftler kamen nach der Untersuchung von 68 Unternehmen am Neuen Markt zu dem Ergebnis: Fast der Hälfte der Firmen drohe der finanzielle Kollaps.

„In der Euphorie ist sehr viel an die Börse gekommen, was nicht solide war“, erklärt Börsenkenner Schiereck. Mobilcom-Gründer Gerhard Schmid urteilte Jahre später: „Die Banken haben doch jeden an die Börse gebracht, der einen ambitionierten Geschäftsplan vorgelegt und dabei das Wort Internet richtig geschrieben hat.“

Kursrallys brachten den Neue Markt als „Zockermarkt“ in Verruf. Aufgeblasene Bilanzen, Insiderhandel und Kursbetrug gaben der „New Economy“ den Rest: So hatte der Münchner Telematik-Spezialist ComROAD fast seine gesamten Umsätze erfunden, die Brüder Haffa - einst als Millionärsmacher gefeiert - mussten eingestehen, dass die Bilanzen ihrer Medienfirma EM.TV nicht stimmten und landeten vor Gericht.

Im März 2002 räumte sogar der damalige Börsenchef Seifert ein, es habe am Neuen Markt „kriminelle Machenschaften“ gegeben. Immer länger wurde die Liste der geschassten Börsenstarter - mit kunstvollen Namen wie FortuneCity.com, InfoGenie, e.multi und LetsBuyIt.com. Der Auswahlindex der Wachstumsbörse, der Nemax 50 (kurz für Neuer-Markt-Index), brach von Rekorden bei fast 10 000 Punkten zwischenzeitlich auf nur noch einige hundert Zähler ein. Die Dotcom-Blase platzte, 2000/2001 stürzten die Kurse binnen weniger Monate ab.

Weil auch strengere Regeln nicht halfen, zog die Deutsche Börse die Reißleine: Im September 2002 wurde das Aus des Neuen Marktes beschlossen, zum 5. Juni 2003 wurde das Börsensegment geschlossen.

Vielen Deutschen hat der Neue Markt das Interesse an Aktien gründlich verleidet. Nach Zahlen des Deutschen Aktieninstituts hatten zum Jahresende 2012 in Deutschland 8,8 Millionen Menschen direkt oder indirekt Geld in Aktien investiert. Der Anteil der Aktionäre an der Gesamtbevölkerung ist mit 13,7 Prozent deutlich geringer als in vergleichbaren Industriestaaten.

Experten wie Schiereck beobachten diese Entwicklung mit Sorge: Der Zwang zu privater Altersvorsorge erfordere eine neue Aktienkultur. Und der Börse täte zehn Jahre nach dem Aus für den Neuen Markt manches junge Unternehmen gut, meint der Ökonom: „Wir haben definitiv einen Nachwuchsmangel auf dem Kurszettel.“