Kunstfehler können jeden treffen

17 Ärzte und Pfleger bekennen zum Beispiel Patienten verwechselt oder OP-Utensilien im Bauch vergessen zu haben.

Berlin. Fehler bei der medizinischen Behandlung und Pflege können jeden Klinikpatienten treffen. Bis zu 560 000 solcher Fälle bei 17 Millionen Behandlungsfällen gibt es nach Einschätzung des Aktionsbündnisses Patientensicherheit in Deutschland pro Jahr. Jetzt haben 17 bekannte Ärzte und Pfleger in einer Broschüre und in Medien öffentlich über eigene Fehler berichtet. Sie wollen ein Beispiel für ihre Zunft geben.

Nur rund 100 ganz schwere Fälle gibt es pro Jahr, sagt Matthias Schrappe, Vorsitzender des Aktionsbündnisses am Donnerstag in Berlin. Bei Operationen werden Körperseiten oder ganze Patienten verwechselt, OP-Utensilien etwa im Bauch vergessen. Auch die 150 000 vermeidbaren von insgesamt 500 000 Infektionen in Kliniken sowie Zehntausende von unerwünschten Arzneimittel-Wirkungen können für die Patienten gravierende Folgen haben. „Aufgrund dieser Fehler sterben mehr Menschen als im Straßenverkehr“, sagt der Vorstandschef des AOK- Bundesverbands, Hans Jürgen Ahrens. Mehr als 5000 sind das, wieviele genau, weiß niemand.

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) sieht die Zeit reif für eine Enttabuisierung. Schrappe sagt: „Nur wenn wir über Fehler sprechen lernen, können wir sie verhindern.“ Aber wer gesteht folgenreiche Fehlgriffe, Missachtung des Patientenwillens, ärztliche Eitelkeit oder schlichte Schlamperei schon gern ein im oft von Konkurrenzdenken und Stress geprägten Krankenhausalltag?

Die meisten der arrivierten Ärzte und Pfleger, die sich jetzt outen, haben durch das Eingeständnis früherer beruflicher Sünden nichts zu verlieren. Ihre Kurzberichte zeigen: Gefahren lauern überall im hektischen Klinikalltag. Ärztekammerpräsident Jörg- Dietrich Hoppe hofft, die Vorbilder verhelfen zu einer neuen Kultur der Fehlervermeidung.

Peter Sawicki, heute Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, schildert etwa, wie er einst eine 75-jährigen Dame zu einer Herzoperation drängte - voller Stolz, als erster die richtige Diagnose gestellt zu haben. Einwände der Schwerkranken, sie wolle nicht mehr operiert werden, sondern nur zuhause noch einmal ihre Enkel sehen, überging der Arzt. Die Patientin starb kurz nach dem Eingriff.

Marie-Luise Müller, heute Präsidentin des Deutschen Pflegerats, war als Nachtschwester auf voll belegter Station unter anderem für eine Patientin verantwortlich, aus deren Luftwegen sie regelmäßig Schleim saugte. Als andere Kranke nach ihr klingelten, vergaß Müller ein Pflaster zum Fixieren der Kanüle am Infusionsständer. Folgendes Bild bot sich bei der Rückkehr: „Sie liegt leblos und blau-marmoriert im Bett. Die Klingel war außerhalb ihrer Reichweite gerutscht.“ Die Frau hatte das Pflaster über die Kanüle gezogen und war erstickt.

Matthias Rothmund, Klinikdirektor in Gießen, vergaß eine Klemme im Bauch eines Krebspatienten. Klinikdirektor Bertil Bouillon gibt zu, einer Weitspringerin das falsche Knie operiert zu haben, weil die Papiere falsch ausgefüllt waren. Und der Marburger Internist Peter von Wichert schildert, wie ein Patient von Arzt zu Arzt, von Teildiagnose zu Teildiagnose irrt und die zunächst harmlos erscheinenden Beschwerden schlimmer und schlimmer werden - die Ärzte informierten sich nicht gegenseitig über Arzneien und Befunde.

Trotz solcher Probleme, die von den Ärzteorganisationen offensichtlich nicht als Sonderfälle angesehen werden, bleibt den Patienten wenig eigener Spielraum zur Vorbeugung. Sie sollen den Ärzten genau zeigen, wo es wehtut, sagt Schrappe, damit diese nicht die Körperseite verwechseln. Allein bei der AOK melden sich 10 000 Patienten im Jahr mit Verdacht auf fehlerhafte Behandlung. Ein Drittel aller Patientenbeschwerden sind begründet. Krankenschwester war in der Nachtschicht
auf sich selbst gestellt
"Wegzuschauen ist kein Weg", sagt der Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, Matthias Schrappe. Schwere Kunstfehler kämen in Deutschland etwa hundert Mal im Jahr vor. Das Spektrum der Behandlungsfehler, die von den 17 Ärzten, Krankenschwestern, Pflegern und Therapeuten beschrieben werden, reicht von der zu spät bemerkten Krebserkrankung bis zur Operation am falschen Knie. Der Chirurg Bertil Bouillon berichtet in der Broschüre des Aktionsbündnisses, wie er als junger Assistenzarzt in letzter Minute eine Gelenkspiegelung übernehmen musste. Merkwürdigerweise fand er am Knie der Patientin nicht den erwarteten Meniskusschaden. Später stellte sich heraus, dass er wegen eines Verwaltungsfehlers am falschen Knie operiert hatte. Bouillon: "Seitdem markiere ich am Morgen der Operation immer beim wachen Patienten die zu operierende Extremität mit einem nicht abwischbaren Stift". Die Krankenschwester Christel Bienstein bekennt sich zu einer Fehleinschätzung, die möglicherweise zum Tod ihres Patienten beitrug: Während einer Nachtschicht rief sie mehrmals vergeblich den diensthabenden Arzt zu Hilfe. Als dieser nicht auftauchte, entfernte sie mehrfach selbstständig einen Schleimpropfen aus den Atemwegen eines schwer kranken Patienten. Beim Schichtwechsel berichtete sie der Ablösung zwar von den Zwischenfällen, unternahm aber nichts, um dauerhaft Abhilfe zu schaffen. Der Patient erstickte. Auch Bundesärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe unterlief zu Beginn seiner Karriere ein "Beinahe-Fehler": Er gab einem Patienten, der mit Beruhigungsmitteln einen Selbsttötungsversuch unternommen hatte, aus Versehen ein Schlafmittel statt eines Aufweck-Präparats. Die beiden Medikamente hatten fast gleich lautende Namen und standen im Regal nebeneinander. Zum Glück wurden die Ärzte sofort misstrauisch, als der Patient nicht aufwachte, und konnten gegensteuern. Später wurde der Medikamentenschrank in der Klinik neu geordnet. "Ich werde das nie vergessen", sagte Hoppe gestern bei Vorstellung der Ärzteaktion. Ziel müsse sein, in Krankenhäusern und Praxen eine Kultur der Fehlervermeidung zu schaffen. Das Entscheidende sei "nicht, wer ist schuld, sondern was ist schuld". Ministerin Schmidt sagte, freiwillige Bekenntnisse könnten bei der Überwindung von Tabus helfen. Laut AOK-Chef Jürgen Ahrens bitten jährlich 10000 Patienten die Kasse um Hilfe bei der Aufklärung von mutmaßlichen Fehlbehandlungen. Wenn die AOK eines Tages selbst bestimmen könne, mit welchen Krankenhäusern sie zusammenarbeite, werde sie verstärkt darauf achten, wie offen Kliniken mit Fehlern umgingen, sagte er.

Skandalisierung

Kommentar

Wer wollte etwas dagegen haben, wenn dem Pfusch am Patienten der Kampf angesagt wird? Das ist wohl so selbstverständlich wie die Erwartung, dass die Bahn ihre Züge pünktlich aufs Gleis stellt. Einen Beigeschmack allerdings hat die Initiative der Gesundheitsministerin, ist doch nicht zuletzt sie selbst für die chronische Unterfinanzierung des Gesundheitssystems verantwortlich. Die Skandalisierung der Folgen ist da zu billig. Denn die Menschen - Ärzte, Pfleger und Schwestern - funktionieren in der Regel deutlich besser als die Verhältnisse, unter denen sie arbeiten müssen. eberhard.fehre@wz-plus.de