Charme der Ruinen - Verwunschene Orte finden Liebhaber
Berlin (dpa) - Für die einen sind es Bruchbuden, für die anderen ist es Kopfkino: Ob leerstehende Fabriken oder verwilderte Botschaften - Ruinen sind nicht nur als Fotomotiv gefragt.
Im Kalten Krieg saßen hier die Amerikaner und lauschten Richtung Moskau. Ruinen-Führer Andreas Böttger (39) leuchtet mit dem Handy den Weg durch die fensterlosen Gänge. Es geht hinauf zum Turm der alten Abhöranlage auf dem Berliner Teufelsberg. Was für ein Blick! Die Stadt liegt wie ein Meer zu Füßen des Hügels - das Olympiastadion, der Alexanderplatz, der riesige Grunewald. Von unten ist aus dem Gestrüpp das Quieken der Wildschweine zu hören. Windböen zupfen an der zerrissenen Plane des Radarturms.
Die Abhöranlage ist einer von vielen verlassenen Orten in Deutschland, die Fotografen und Entdecker anlocken. Die Patina, die Stille, der Zauber der Geschichte: Das fasziniert anscheinend immer mehr Menschen. „Am Brandenburger Tor oder den Fernsehturm zu fotografieren, ist langweilig“, sagt Böttger, der Touren durch Gefängnisse oder Fabriken anbietet - mit Genehmigung.
Was ist an verlassenen Orten so schön? „Das ist ein bisschen wie Urlaub, du bist in einer anderen Welt“, sagt Böttger. Bei ihm war es als erstes seine alte Schule in Hohenschönhausen, die ihn als Ruine faszinierte: Die Außenwände fehlten, aber im Kasten der Tafel lag noch die Kreide.
Mit den Fototouren liegt Böttger im Trend. Zeitungen sammeln Ruinen-Bilder von Lesern. Das Internet quillt über vor Tipps und Fotos. Allein die „ Vergessenen Orte in Schleswig-Holstein“ bekamen mehr als 30 000 „Gefällt mir“-Daumen bei Facebook.
„Urban Exploration“, das Entdecken der Städte, ist eine globale Bewegung. Das marode Detroit begeisterte so viele Fotografen, dass von „Ruinen-Porno“ die Rede war. In Italien sind verfallene Nobel-Discos zum Motiv geworden. Für die einen sind es für andere verwunschene Orte mit Nostalgiefaktor. Neudeutsch: „lost places“.
Berlin hat einige davon zu bieten. Wie der Teufelsberg, wo sich Künstler mit Streetart und Graffiti ausgetobt haben, sind viele Orte keine Geheimtipps mehr: die alte irakische Botschaft in Pankow, das Ballhaus in Grünau, das Stadtbad in Lichtenberg oder eine verwilderte Bahnstrecke in Siemensstadt. Im Spreepark, einem stillgelegten Vergnügungspark, wütete gerade ein Feuer - Brandstiftung. Oft ist der Zutritt zu den Ruinen nicht erlaubt. Manche Häuser haben aber auch schon einen Investor gefunden.
„Verlassene Orte üben auf mich eine ganz besondere Anziehungskraft aus“, sagt Autorin Lucia Jay von Seldeneck (36, „111 Orte in Berlin, die man gesehen haben muss“). Zum einen sei da der Nervenkitzel des Einsteigens. Und dann, wenn man die Mauer oder den Zaun überwunden habe, offenbare sich, Stück für Stück, eine Geschichte. „Man betritt eine andere Welt.“ Sie mag es, wenn an den Orten etwas Neues passiert, etwa wenn sich ein Parkdeck in einen Club verwandelt.
Die Szene ist gemischt: Es gibt „Urban Explorer“, die sich ernsthaft für die Geschichte interessieren und keine Spuren hinterlassen, aber auch Partyhorden und Schrottdiebe. Umstritten ist bei Ruinen-Liebhabern, ob man im Internet sagen soll, wo die Fotos entstanden sind.
Der Fotograf Axel Hansmann (60) distanziert sich von „Handyknipsern“ und verrät die genauen Standorte nicht. Er sucht auch nicht den Kick des Illegalen. Ihn faszinieren das Farbspiel der Natur, der Charme der Tristesse. „Ich brauche keinen Adrenalinschub“, sagt er.
Seine Ruinen-Leidenschaft begann 2007 in den Beelitzer Heilstätten in Brandenburg, wo früher Tuberkulose-Kranke hinkamen. Um die 30 verlassene Orte kennt Hansmann schon. Berlin hält er für abgegrast. Bald reist er für eine Ausstellung nach Westsibirien. Er freut sich, dort ein Lager von alten Sowjet-Hubschraubern zu erkunden.
Auch Ruinen-Führer Andreas Böttger denkt über Berlin hinaus. „Uns gehen die Orte nicht aus.“ Er zeigt Bilder aus einem verwunschenen Hotel, mit Spinnweben und verwitterten Ohrensesseln. Es sieht aus, als ob die Zeit still stehe. Das Haus liegt im Schwarzwald. Bald soll es auch dort Touren geben. Als Böttger davon erzählt, klettern gerade Foto-Touristen die Treppe zur Radarkugel auf dem Teufelsberg hinauf. Ihre Augen leuchten, auch wenn sie hier nicht allein sind.