Einzigartiges Tourismus-Archiv mit neuem Zuhause

Berlin (dpa) - Reiseberichte aus dem 17. Jahrhundert, Werbebroschüren aus der Stalinzeit und Zehntausende andere Dokumente der Tourismusgeschichte sind in einem einzigartigen Berliner Archiv zu finden.

Nach jahrelanger Ungewissheit hat es ein neues Zuhause.

Fernzüge starten am Bahnhof Zoo in Berlin kaum noch. Doch nur wenige Schritte entfernt kann man in fremde Welten eintauchen - ganz ohne zu verreisen. Vor wenigen Monaten öffnete in der Hardenbergstraße das Historisches Archiv zum Tourismus (HAT) nach langer Standortsuche neu. Mehr als 10 000 Bücher, 50 000 Prospekte und Tausende Plakate aus fünf Jahrhunderten füllen 600 Regalmeter. „Unser Archiv ist weltweit einzigartig“, sagt der Leiter und Tourismusforscher Hasso Spode.

Wahre Schätze verbergen sich in den mit Neonlicht erhellten Kellerräumen: Die ältesten Bücher liegen in einer Glasvitrine, darunter ein Reisebericht aus Syrien mit dem Titel „Die ergötzlichen und merkwürdigen Seiten des Morgenlandes“ von 1681 oder ein Beschreibung Chinas von 1676. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt allerdings auf dem 20. Jahrhundert, als der Tourismus zum Massenphänomen wurde.

In den Regalen liegen Broschüren aus der Sowjetunion unter Stalin, nationalsozialistische Prospekte mit Werbung für „Kraft durch Freude“-Ferienanlagen und West-Berlin-Werbung. Außerdem gibt es Reiseführer über Länder, die gar nicht mehr existieren, wie die DDR oder Jugoslawien. Zur Sammlung gehören auch private Fotoalben, Tonbänder, Videos, Akten und Karten.

Immer wieder ist der Wissenschaftler überrascht über Stücke aus dem Bestand, der erst zu zwei Dritteln systematisch erfasst ist. „Hier zum Beispiel, das war pure Apartheid“, sagt er und hält einen Baedeker-Autoführer für das Generalgouvernement in der Hand. Der Reiseführer von 1942 über das vom Deutschen Reich besetzte polnische Gebiet zeige zum Beispiel, wie die polnische Bevölkerung systematisch diskriminiert wurde, etwa in Restaurants.

Lange Zeit war unklar, ob das 1986 an der Freien Universität (FU) Berlin gegründete Archiv überhaupt noch eine Zukunft hat. 2009 stellte die FU den Studiengang „Tourismuswissenschaft“ ein, an den das Archiv angegliedert war. Dessen Räume wollte die FU anders nutzen. „Es hat Monate gedauert, bis wir eine neue Lösung gefunden haben“, sagt Professor Spode. „In der Zwischenzeit meldeten etliche Hochschulen, unter anderem aus den USA, Schweden, Malta und der Schweiz Interesse am Archiv an“. Jetzt bietet das Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Räume ein neues Zuhause.

„Wir sind das Gedächtnis der Tourismusbranche in Deutschland. Man sollte uns mal die Füße küssen“, sagt Spode auch mit Blick auf die nach wie vor unzureichende Finanzierung. Unterstützt wird das Archiv hauptsächlich von der Willy-Scharnow-Stiftung für Touristik in Frankfurt am Main. Geschäftsführer Walter Krombach erklärt, warum: „Als einzige Stiftung der Tourismusbranche, die sich der Aus- und Weiterbildung von Touristikern widmet, halten wir es mit dem Zitat: 'Keine Zukunft, ohne Vergangenheit'“.

Hasso Spode hat nur zwei Mitarbeiter, die zum Teil ehrenamtlich arbeiten. Große Besucherströme wären daher nicht zu bewältigen. Die Räume stehen vor allem Wissenschaftlern und Experten aus der Tourismusbranche offen. „Die Forscher kommen sogar aus der Ukraine, Mexiko, Brasilien und Russland zu uns“, erzählt Spode.

Exoten sind die Forscher nicht: „Die Beschäftigung mit dem Tourismus und seiner Geschichte ist nicht etwa ein reines Spezialinteresse, und auch nicht nur deshalb interessant, weil sich der Tourismus inzwischen zui einem der wichtigsten Wirtschaftszweige gemausert hat“, betont der Historiker Rüdiger Hachtmann vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Diese Forschung eröffne vielmehr vielfältige Perspektiven auf transnationale Beziehungen, sei im Schnittpunkt von Kultur-, Sozial-, Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte angesiedelt. Außerdem sei sie ein Spiegel der modernen Konsumgesellschaft. Für Tourismushistoriker sei es ein Problem, daß „normale“ Archive die höchst aufschlussreichen Quellen nicht sammelten. „Deswegen ist für Tourismus- und überhaupt Kulturhistoriker ein großes Glück, daß das HAT existiert“.

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