Fußball-EM in Frankreich Kurort Évian-les-Baines - Das Hoffen auf „La Mannschaft“
Am 6. Juni bezieht das DFB-Team sein Quartier für die Fußball-EM in Frankreich. Für das Städtchen Évian-les-Baines könnten Jogis Jungs zum Glücksgriff werden.
Évian-les-Baines. Das wichtigste deutsche Wort des Sommers hat Maud Perrot bereits gelernt. Akzentfrei kommt der Französin in jedem vierten Satz die Bezeichnung „La Mannschaft“ über die Lippen. Die Mittdreißigerin arbeitet bei der Stadtverwaltung von Évian-les-Baines — und muss den größten und wichtigsten Empfang des kleinen Kurortes seit dem G8-Gipfel im Jahr 2003 organisieren. „Aber wenn jemand das kann“, sagt sie mit Inbrunst, „dann wir“.
Deutschlands Fußball-Nationalmannschaft, der „Weltmeister“ — auch dieses Wort fällt oft und flüssig — bezieht während der Europameisterschaft in Frankreich in Évian Quartier. Und während Perrot ihren Espresso im Restaurant des Casinos direkt gegenüber der See-Promenade kalt werden lässt, sprudeln die geplanten Events nur so aus ihr heraus. Public Viewing auf dem malerischen Marktplatz und der vier Kilometer langen Seepromenade soll es geben, dazu zahlreiche Konzerte und eine Fahnenparade. Auch wird der Blumenschmuck im an sich schon floralen Évian — das milde Seeklima beschert den Pflanzen der Stadt jährlich vier Blütephasen — noch üppiger als sonst sein. Das 8000-Einwohner-Städtchen putzt sich heraus, steht in den Startlöchern und ist bereit. „La Mannschaft“ kann kommen.
Der Eifer ist verständlich. Seit Jahren bemüht sich Évian, aus dem Schatten seines wichtigsten Wirtschaftsgutes herauszutreten. Das dort gewonnene und gleichnamige Mineralwasser ist schließlich im wahrsten Wortsinn in aller Munde. Rund 1,5 Milliarden Liter des als besonders gesund geltenden Wassers werden jährlich vom Lebensmittelkonzern Danone in die ganze Welt verkauft. Der Erfolg des Wassers überlagert alles.
Irgendwie war das schon immer so. Bereits im 13. Jahrhundert, als Graf Peter von Savoyen die Stadt gründete, wusste man um den Nutzen des mineralischen Segens. Die zahlreichen Quellen, die ihre Wurzeln im nahen Plateau de Gavot haben, zogen über die Jahrhunderte zahlreiche Gäste an. Unter ihnen auch Jean-Charles de Laizer, auch als Marquis de Lessert bekannt.
Der damals etwa 60-Jährige litt unter Nierensteinen und entdeckte im Garten der reichen Familie Cachat eine Quelle, die regelmäßig sprudelte. Eine Trinkkur mit dem Wasser brachte unerwarteten Erfolg, er erholte sich von seinem Leiden. Eine Analyse des Wassers bestätigte die heilsame Wirkung des eher mineralarmen Getränks — und die Familie Cachat witterte ein großes Geschäft.
Evelyne Hurtaud, Stadtführerin
Alsbald entstanden mondäne und sehr weitläufige Trinkhallen, Tempel aus Stein, Glas und Holz, mit bemalten Kuppeln und schmiedeeisernen Gittern. Gekrönte Häupter aus England und Ägypten, aber auch Literaten wie Marcel Proust oder indische Maharajas unternahmen ausgedehnte Trinkkuren. Ein Casino und zahlreiche Luxushotels wurden eröffnet, auch eine bis heute aktive Standseilbahn nahm den Betrieb auf. „Es hätte alles so weitergehen können“, sinniert Stadtführerin Evelyne Hurtaud, die mehrmals wöchentlich die größtenteils französischen und Schweizer Touristen durch die verwinkelte Altstadt führt. Der Aufstieg von Genf zum Sitz zahlreicher internationaler Organisationen und die wachsende Popularität von nahen Städten wie Lausanne und Montreux sorgte allerdings für einen Einbruch im Fremdenverkehr. Nur das Mineralwasser sprudelte wie seit Jahrtausenden aus dem Stein, und bald dachte jeder beim Namen Évian nur noch an das Mineralwasser.
Wobei Madame Hurtaud das persönlich gar nicht so schlimm findet, schließlich habe die Gemeinde dem Naturerzeugnis überaus viel zu verdanken. „Ohne das Wasser hätte es den Aufschwung von Évian niemals gegeben“, sagt die zierliche Frau, die sich bei ihren Führungen von tropfenförmigen Einlassungen in der Straße leiten lässt. Und ob die majestätische Villa Lumière mit ihrer spätklassizistischen Fassade und den Michelangelo-Repliken, das Schloss des Grafen von Savoyen oder die Kirche Notre-Dame de l´Assomption: Sie alle lohnen einen Besuch und sind durch die Tropfen leicht zu finden.
Evelyne Hurtaud
Doch für das Highlight einer Führung brauche es die Markierungen eigentlich gar nicht, wie sie schmunzelnd sagt: „Halten Sie nach Menschen mit leeren Plastikflaschen die Augen offen.“ Und tatsächlich: Den ganzen Tag über ziehen Gruppen von Leuten die Rue Nationale und die Ruelle du Griffon Cachat entlang, in der Hand entweder einzelne Plastikflaschen oder einen Beutel mit leeren Behältnissen. Ihr Ziel: Die Cachat-Quelle hinter der majestätischen gleichnamigen Trinkhalle. „Mag ja sein, dass Danone das Wasser auf der ganzen Welt für viel Geld verkauft“, so Evelyn Hurtaud. „Aber hier bekommen Sie es gratis.“
Frauen mit Rollatoren, Männer mit Schubkarren, ganze Familien und Touristen mit Trinkbechern: Ein jeder kommt zur Cachat-Quelle, um irgendein Behältnis unter den ewigen Strahl klaren Wassers zu halten. Einen Qualitätsunterschied zum gekauften Produkt gebe es nicht, wie Hurtaud meint. „Das ist das gleiche Mineralwasser wie in den Flaschen.“
Auch deutsche EM-Touristen, die während des Turniers nach Évian kommen, um „La Mannschaft“ nahe zu sein, dürften im Sommer zu den Begünstigten zählen. Wobei die Fremdenführerin bezweifelt, dass sie Jogis Jungs dann wirklich zu sehen bekommen. „Die haben sich strikt abgeriegelt“, weiß Hurtaud, da komme keiner hin. Sowohl um die Unterkunft als auch um die Trainingsmöglichkeiten des benachbarten Stade Camille Fournier werde eine Bannmeile gezogen, zu der ohne eine passende Akkreditierung niemand Zutritt habe. Dabei ist der Weg zum Quartier kinderleicht zu finden. Das von der Nationalmannschaft ausgewählte Vier-Sterne-Hotel Ermitage gilt gemeinsam mit dem etwas nobleren Schwesterhaus Hotel Royal als die Top-Unterkunft der Stadt, die entsprechende Beschilderung kann niemand übersehen.
Patrice Feraco, Sportler
Von der Hotelleitung ist kaum etwas über die illustren Gäste zu erfahren, es wurde Verschwiegenheit vereinbart. Bis auf die Tatsache, dass der DFB gleich für vier Wochen das gesamte Hôtel Ermitage für sich allein gebucht hat, sagt niemand etwas. Mehrere Angestellte wie etwa Sports- und Activity-Manager Patrice Feraco gehen allerdings davon aus, dass bis auf den Zimmerservice und das Reinigungspersonal die meisten quasi eine Art Betriebsurlaub einlegen können. Schließlich zählte bei ähnlichen Anlässen auch ein komplettes Küchen- und Therapeutenteam zur Entourage. Und ob sie auf die Dienste von Patrice zurückgreifen, hält dieser für eher ausgeschlossen. „Die werden wohl separat trainieren, für Ausflüge haben sie keine Zeit.“
Und wenn doch? „Dann haben wir hier perfekte Möglichkeiten“, sagt der Outdoor-Experte. In Sichtweite zum Hotel liege der See mit all den Wassersportmöglichkeiten wie Schwimmen, segeln oder surfen, selbst tauchen sei möglich. Nur eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt ragen mehr als 3000 Meter hoch die Savoyer Alpen und das Chablais empor, wo sich spannende Mountainbike-Exkursionen oder Rafting-Touren auf der wilden Dranse anbieten. Auch Ausflüge zum nur anderthalb Stunden entfernten Montblanc könne das Team unternehmen oder ins nahe gelegene Mittelalterstädtchen Yvoire. Mit seiner Stadtmauer, den verwinkelten Gassen, urigen Shops und der überbordenden Blütenpracht wurde die mehr als 1000 Jahre alte 900-Seelen-Gemeinde als eines der „plus beaux villages de France“ ausgezeichnet, eines der schönsten Dörfer Frankreichs.
Patrice rechnet mit hunderten Journalisten aus aller Welt, die aus Évian über die EM berichten werden. „Nicht zu vergessen die Fans“, sagt Patrice und weiß, dass dem deutschen Team in der Vergangenheit bei anderen Turnieren immer eine stattliche Zahl von Anhängern folgte.
Dabei hätte es auch anders laufen können. Jedes Nationalteam bekommt vom Veranstalter UEFA schon früh eine Liste möglicher Quartiere und Orte. So auch der DFB — aber der suchte lieber selbst und wurde in Évian fündig. Eine Wahl, von der die Stadt laut Patrice definitiv profitieren werde. „Solange ,La Mannschaft’ im Turnier ist, wird täglich über uns berichtet.“ Und das nicht nur im Nachbarland, sondern mitunter auf der ganzen Welt. Dem lokalen Tourismus würde das einen „nachhaltigen Schub und neue Perspektiven“ verleihen, hofft Patrice — und mit ihm die ganze Region. Der Autor reiste mit Unterstützung von Évian Resort.