New York: Der Schicksalstag am „Ground Zero“
Fiktive Kurzgeschichte zum 11. September: Unheimliche Begegnung in New York City – auf der Suche nach Frieden und der X-Achse.
"Großer Gott!" Das war alles, was meine Frau damals gesagt hat. Ich höre diesen Satz wieder und wieder - ein Echo, das kein Ende nimmt. Keine Ahnung, wie oft diese Worte am 11. September 2001 zu hören waren, rund um den Erdball, an jenem Tag, als das neue Jahrtausend innerhalb weniger Minuten seine Unschuld und unser Koordinaten-System für die nächsten Jahre seine X-Achse verloren hat. Ich bin mir sicher, dieser Satz wurde damals in diversen Sprachen gesagt, geflüstert und gerufen - an jedem Ort, an dem ein Fernseher, ein Computer oder ein Radio in greifbarer Nähe stand.
"Großer Gott!" Das hat es auf den Punkt gebracht, überall auf der Welt. Ich für meinen Teil habe diesen Satz damals nur gedacht - in einem Großraumbüro, am Schreibtisch, als Mann in der Menge, den Blick starr auf einen Bildschirm gerichtet, der an der Decke hing und sich mit immer mehr verheerenden CNN-Bildern füllte. So stand ich einfach nur da, am 11. September 2001, mit einem Kaffeebecher in den Händen, und sah mit an, wie das zweite Flugzeug einschlug - nun in den Südturm.
Dann hörte ich nebenan einen Kollegen telefonieren. Er bat seine Frau hinter vorgehaltener Hand, sofort Heizöl zu bestellen. "Ich glaube, es gibt Krieg. Ich komme heute früher nach Hause." Er hat sich bemüht, leise zu sprechen, doch ich habe jedes Wort verstanden. Sechsundfünfzig Minuten später sahen wir ihn dann fallen, den Südturm, und mit ihm alles, was wir bislang an Tagen erlebt hatten, die - wie dieser hier - Geschichte schrieben.
Das alles ging mir durch den Kopf, als meine Frau und ich acht Jahre später vor der riesigen Fensterfront standen, um das Baufeld jenseits der Sperrzäune zu betrachten, auf jenem Fleck Erde, der heute "Ground Zero" heißt. Und sollten auch Sie eines Tages nach New York City kommen, meine Damen und Herren, dann gehen Sie ins World Financial Center an der West Street in Manhattan, nehmen die schmalen Rolltreppen und halten sich dann immer strikt rechts.
Nach einigen Metern werden Sie die riesigen Fenster sehen, die Ihnen nach Westen hin einen Blick auf das riesige Baufeld gestatten.
Gut möglich, dass die vielen Baugruben dann Geschichte sind, ebenso wie die Stahlgerüste und Autokrane, auf denen US-Flaggen um die Wette wehten, als meine Frau und ich am Fenster standen - an einem verregneten Nachmittag Ende November. Gut möglich, dass die Nachkommen des World Trade Centers bei Ihrem Besuch längst stehen und alle Mühen auf dem Weg dorthin Geschichte sind.
Damals allerdings waren die Bauarbeiten voll im Gange und ließen mit Macht erahnen, mit welchem Pflaster man die amerikanische Seele an dieser Stelle zu versehen gedachte. Zu meiner Überraschung standen meine Frau und ich an jenem Nachmittag ganz allein am Panoramafenster, die Hände ungläubig auf das Geländer aus Aluminium gestützt und den Blick auf die Liberty Street zur Rechten gerichtet.
Und wieder kam mir mein Kollege mit dem chronisch leeren Heizöltank und den seherischen Fähigkeiten in den Sinn. Am Tag nach unserem Besuch an der Fensterfront war in den US-Zeitungen zu lesen, dass 7,5 Tonnen Stahl aus den Trümmern des World Trade Centers im Bug der USS New York mit 800 Mann Besatzung verbaut worden sind - und dass man ähnliches noch mit zwei weiteren Kriegsschiffen der US-Marine zu tun gedachte.
Für meine Frau und mich hatte diese Story allerdings keine Bedeutung, denn uns beschäftigte zu dieser Stunde etwas ganz anderes. Selbst heute, Jahre später, fragt sie mich hin und wieder, ob wir uns damals vielleicht getäuscht haben, ob unser Verstand oder unsere Augen uns möglicherweise einen Streich gespielt haben. Sie wissen schon, einen von der üblen Sorte, damals am Fenster - mit Blick auf "Ground Zero". Ich wünschte mir, ich hätte eine plausible Antwort. Doch so sehr ich auch danach suche - ich finde sie nicht.
Fest steht nur eines: Ja, wir beide haben den jungen Mann neben uns gesehen, am Geländer aus Aluminium, mit einem schwarzen Aktenkoffer in den Händen. Groß, blass und schlank war er. Und er trug einen dunklen Mantel, der fast bis zum Boden reichte. Seine Handschuhe waren aus Leder - ich sehe sie immer noch vor mir.
So stand er neben uns, herangetreten an das Fenster ohne einen Laut, keine zwei Meter neben meiner Frau. Und wieder höre ich ihn weinen, still und leise, in den Tiefen seines Mantels unauffällig nach einem Taschentuch suchend.
Meine Frau hat nicht eine Sekunde lang gezögert und eines aus ihrer Handtasche gefischt, um es dem Mann neben uns zu geben.
"Alles in Ordnung, Mister? Können wir Ihnen helfen?"
Nicht einen Moment lang hat der Mann im schwarzen Mantel seinen Blick von "Ground Zero" gerichtet. Nicht einen Moment lang hat er uns angesehen. Nur seine Worte galten uns. Ich höre sie nach wie vor, so deutlich wie das "Oh Gott!" meiner Frau, als wir das alles in Augenschein nahmen, zwei Touristen aus Deutschland, mit einer Kamera und einem zerlesenen Reiseführer in den Händen.
"Ich war damals im Nordturm", hörten wir den Mann neben uns flüstern, als er sich Tränen aus den Augen wischte. "Ich war im Nordturm und habe meine Frau gesucht. Wissen Sie vielleicht, wo sie ist?" Das war alles.
Meine Frau starrte mich sprachlos an, und auch ich suchte nach Worten. "Sie waren damals da oben?" Das wollte ich den Mann neben uns fragen, die Türme, die nicht mehr da waren, immer noch fest im Blick. "Wie um Himmels Willen sind Sie da raus gekommen?"
Auf eine Antwort warten wir nach wie vor. Als wir uns nach rechts drehten, um weiter mit dem Fremden zu sprechen, war der Mann verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.
Auf den Bodenfliesen am Fenster lag nur das Taschentuch meiner Frau - blütenweiß und gefüllt mit Tränen - an einem Nachmittag Ende November.
Bis heute haben wir davon abgesehen, auf den Fotos der fast 3000Toten nach seinem Gesicht zu suchen. Ich bin mir sicher - wir würden es finden.
"Ich war im Nordturm und habe meine Frau gesucht. Wissen Sie vielleicht, wo sie ist?"
Wir hoffen nur, dass der Mann sie damals gefunden hat, irgendwo da draußen, an einem Tag im September, im Himmel über New York City.