Reisen Reiseleiter Martin Wein: „Hungrige Gäste sind lästig“

Aus dem Leben eines Reiseleiters: Von Flexibilität, Nahrungsaufnahme und immer genug Geld in der Tasche.

Foto: Martin Wein

Es muss jetzt schnell gehen. „Ein Traum im Süden“ war das Programm dieser Dalmatien-Reise überschrieben. Acht Tage Sonne zwischen Kotor im Süden und Zadar im Norden. Doch gerade peitscht Regen über die östliche Adria. 25 Reisegäste stapfen unter Capes und Regenschirmen durch knöchelhohe Bäche dem Reiseleiter hinterher. Ein Besuch der angeblich größten Befestigungsanlage Europas steht in Vieliki Ston nördlich von Dubrovnik eigentlich auf dem Programm. Doch bei diesem Wetter ist das unmöglich. Um die Zeit anders zu nutzen, hat eine Kostprobe der dort gezüchteten Austern die Gruppe aus dem trockenen Bus gelockt. Für den Reiseleiter ist es ein Blindflug. Ob und zu welchem Preis es die Meeresfrüchte auf die Schnelle gibt, muss sich erst zeigen.

Eine gelungene Gruppenreise funktioniert wie eine gute Reportage. Sie hat einen Einstieg, Höhepunkte und Ruhephasen, Erklärungen und ein Finale. Der Weg vom Reisereporter zum Reiseleiter ist also nicht weit. Als ich vor acht Jahren gefragt wurde, ob ich für eine Volkshochschule eine Studienreise organisieren könne, habe ich es ausprobiert. Seither geht es ein- bis zweimal im Jahr mit Gefolge auf Tour, besonders gern an weniger bekannte Ecken der Welt wie auf die Äußeren Hebriden im Nordwesten Schottlands oder auf die Spuren der Hanse in den Ostseeraum.

Ein Jahr Vorlauf braucht es, bis alle Hotels, Besichtigungen, Wanderungen und sonstigen Ausflüge unter Dach und Fach sind — und vor Ort trotzdem ständig Improvisation. Dabei ist immer wieder erstaunlich, wie begeistert die Gruppen mitmachen. Solange Gäste sich sicher fühlen und das Gefühl haben, etwas Besonderes zu erleben, kann man mit ihnen Pferde stehlen. Auf Island bin ich mit einer Gruppe einmal nachts um 23 Uhr auf Wal-Safari gegangen, weil sonst keine Zeit dazu war. Die Mitternachtssonne schien am Horizont, wir hatten die Bucht für uns allein, der Buckelwal blies und geangelt wurde auch.

In Alaska sollte die Route im Frühjahr eigentlich mit der Küstenfähre durch den Prinz-William-Sound zurück nach Anchorage führen. Ein kurzfristiger Fahrplanwechsel zwang stattdessen zu einer langen Busfahrt. Zur Entschädigung haben wir uns unterwegs die Füße auf einem Gletscher vertreten — mit Helm und Steigeisen.

Wie damals auf Island oder in Alaska gilt es, auch in Dalmatien zu improvisieren. Die Restaurants auf der Hauptgasse scheinen stark frequentiert und teuer. Also abbiegen in eine Seitengasse. Und keine Unsicherheit aufkommen lassen. Aus einer offenen Tür schaut ein Mann in den Regen. Durch das Fenster daneben blickt man in eine Gaststube mit allerhand Fotos und Bilder an den Wänden. Genau das Richtige. „Zwei Austern und ein Glas Wein für jeden. Was kostet das?“, frage ich. Der Mann macht einen anständigen Preis. Minuten später sitzen alle im Trockenen und der Sturm ist vorerst vergessen.

Der nächste Tag in Dubrovnik beginnt um 7.30 Uhr, damit wir die wunderschöne Altstadt wenigstens für zwei Stunden fast für uns haben. Als die anderen Busse kommen, sind wir schon im Rektorenpalast. Den meiden fast alle Gruppen wegen des Eintrittsgeldes.

Tags darauf geht es nach Montenegro. Dass Busfahrer Mario nur bruchstückhaft Deutsch spricht und kein Wort Englisch, weiß ich inzwischen. Absprachen sind kaum möglich. Zum Glück ist heute mit Slobodan ein sprachkundiger Kollege dabei. Der macht Mario schnell klar, dass wir im Nebel nicht die Passstraße über die Berge nehmen wollen. Lieber eine Kaffeepause im Grandhotel Splendid. Das diente angeblich dem James-Bond-Film „Casino Royale“ als Kulisse.

Während der langen Weiterfahrt werden die Gäste unruhig, sie warten auf eine Kaffee- und Sanitärpause. Ins Hotel sind es noch zweieinhalb Stunden Fahrt. Das geht nicht in einem Rutsch. Wir steuern die neue Luxus-Marina Port Montenegro an. Dort kosten wir den lokalen Wein. Damit es schneller geht, zahle ich die Rechnung. Die späte Rückkehr ist mir damit verziehen.

Die meisten Konflikte auf Reisen entstehen, wenn Gäste sich nicht ernstgenommen fühlen. Und der Reiseleiter braucht ein kleines Budget für Unvorhergesehenes. Eine Kollegin hat mir ihr persönliches Überlebensmantra anvertraut: „Hungrige Gäste sind lästig.“ Das habe ich beherzigt. Gerade auf Naturreisen legen wir deshalb viel Wert auf rustikale Picknicks. Die Gäste lieben es, wenn sich mitten im Nichts ein Tischleindeckdich öffnet. Lachs und Kaviar braucht es da nicht — Brot, Käse, Wurst, Tomaten, Obst, Joghurt und ein paar Kekse zum Kaffee aus der Thermoskanne reichen völlig.

Und dann sollen alle Gäste natürlich etwas mit nach Hause nehmen — neben Fotos und Souvenirs vor allem ein Gefühl für das Land, seine Menschen und seine Geschichte. Da die meisten lokalen Guides noch immer mit einem Schwall von Daten, Begriffen und Namen jonglieren, bleibt davon nur wenig hängen. Also gilt es, im Vorfeld alle Informationen auf das Wesentliche zu komprimieren.

Heikel auf Reisen sind immer der erste und letzte Tag. Am Anfang sind die Erwartungen hoch und die Skepsis ist groß. Man kennt sich noch nicht. In Dalmatien angekommen, hat die Gruppe schon einen langen Tag hinter sich. Ein Glas Sekt mit Häppchen und eine Vorstellungsrunde öffnen die Gesprächskreise.

Am letzten Tag wächst dann die Unruhe vor der Rückreise. Die Gruppe beginnt, sich aufzulösen. Zu Ende ist ein Reiseprogramm trotzdem erst am Flughafen. Bis dahin soll niemand auf seinen gepackten Koffern sitzen — schon gar nicht aus Langeweile. In Dalmatien schlage ich deshalb für die, die mögen, noch einen Besuch im neuen Kunstmuseum in Split vor. Danach gibt es ein zünftiges Mittagessen und eine Stadtführung in Trogir. Ein Juwel zum Schluss. Die Stadt liegt nur zehn Minuten vom Flughafen entfernt.

Nach acht Tagen sind alle Reisenden dann erstmal urlaubsreif — und falls nicht, dann doch zumindest ihr Reiseleiter.

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