Schweiz: „Grüezi“ zur Wellness im Oberland
Der kleine Ferienort Adelboden überrascht mit seiner Vielseitigkeit.
Ursprünglich und doch modern, weltläufig und doch voller Lokalkolorit - der kleine Ferienort Adelboden im Berner Oberland überrascht mitkontrastreicher Vielfalt.
Ein Designhotel im bodenständigen Berner Oberland namens TheCambrian? Splash-Hour im Schwimmbad für die Kinder? Und in Scott’s Barphilosophieren abends die Gäste, ob ein Wodka Martini gerührt oder nachJames-Bond-Vorliebe geschüttelt sein muss.
Das klingt alles veryBritish. Aber diese Anglizismen, die sich die walisischen Eigentümer des elegant-modernen Hauses leisten, bleiben die einzigen erkennbarenFremdkörper mitten im Urschweizer Bergdorf Adelboden.
Die 3500Einheimischen haben sich damit arrangiert. UndTourismus-Direktor Roland Huber ist zum 600.Geburtstag seines Dorfsstolz darauf, dass Adelboden in seiner Entwicklung vom einstigen"Waldleute-Dorf zum international bekannten Feriendorf durch eine Tugend geprägt ist: innovative Weitsichtigkeit."
Schließlich war es derEngländer Sir Henry Lunn, der 1902 die erste Pauschalreise nachAdelboden veranstaltete und sich damit als Pionier der komplettorganisierten Reise einen Namen machte. Er gründete in England damalsdie Reiseagentur Sir Lunn Travel, die heute zum Tui-Reisekonzern gehört.
Spätestens das "Grüezi" beim Empfang mit alpenländischerFreundlichkeit und das grandiose Alpenpanorama beim Blick von derSonnenterrasse überzeugen auch den letzten Skeptiker. Er ist tatsächlich im idyllischen Berner Oberland angekommen. Die Seilbahn zurEngstligenalp liegt nur wenige 100Meter entfernt.
Die am Horizont erkennbaren Spitzen der Alpen-Giganten Dolderhorn(3643 Meter), Balmhorn (3698) oder Rinderhorn (3448) sind ebenso vomewigen Eis bedeckt wie Steghorn (3146) oder Wildstrubel (3244). Derrechts voraus liegende 1730 hohe Chuenisbärgli lässt erahnen, dass seine Ski-Piste als schwerste Riesenslalomstrecke des FIS-Weltcups gilt.
Am8. und 9.Januar 2011 platzt Adelboden wieder aus allen Nähten, wenn sich wie jedes Jahr rund 35000 Zuschauer am Hang und auf den provisorischenTribünen im Zielraum tummeln.
Jetzt im Herbst gilt eine ruhigere Gangart. Bevor die WintersportlerPisten und Pensionen erobern, ticken die Uhren anders. Wegweiser führenzur berühmten und berüchtigten Piste am Chuenisbärgli, die sich mitentsprechendem Schuhwerk gut zu Fuß erschließen lässt. Jetzt nehmen sich die Adelbodner Zeit für ihre überschaubare Zahl an Gästen, verdingensich als Fremdenführer, erzählen Geschichten und Sagen.
Wie zum Beispiel Abraham Josi. Der Gelegenheits-Guide und Betreiber eines rustikalenSommer-Bistros sowie einer urigen Herberge mit 18 Schlafplätzen im Stroh erzählt spannende und kuriose Geschichten.
Wetterlaunen kommentiert er mit Humor: "In Adelboden herrscht acht Monate Winter und vier Monate ist es kalt."
Josi kennt die Eigenheiten des Handels mit Kuhrechten für dieAlmwiesen ebenso wie die Anekdoten zur Rivalität zwischen Adelbodnernund den benachbarten Frutigern. Wenn auch beide Orte längst vomFremdenverkehr leben: "Eine Kuh ist immer noch etwas Besonderes", sagtJosi.
Das Gebimmel der Kuhglocken, das so mancher Großstädter alsnervtötende Ruhestörung empfindet, verkauft der drahtige und agile Josiwie ein klassisches Konzert: "Die Glocke ist wie ein Akkord, der Stolzdes Bauern, eine schöne Tradition wie das Jodeln."
Jetzt erschließt die Traumkulisse dem Bergdorf immer neueGeldquellen: Nach dem Almabtrieb der Kühe im September von derEngstligenalp verwandelt sich die wildromantische Almwiese in denhöchstgelegenen 18-Loch-Golfplatz Europas. Mountain-Golf gilt selbst für passionierte Könner als besondere Herausforderung: ungewohnteHöhendifferenzen, Hindernisse wie Bäche sowie Steinsektoren.
Ob Golfer, Wanderer oder Mountainbiker: Die Berner Platte mitSiedfleisch, Rippli, Würstchen, Speck, Sauerkraut, Salzkartoffeln undgrünem Salat sowie zum Dessert Meringues (Baiser) mit Glace und Rahm imBerghaus Bärtschi haben sich alle verdient.
Vor drei Jahren hat Junior Michael Bärtschi das rund 75Jahre alteGasthaus auf der Engstligenalp übernommen. Aber seine Eltern Hansueliund Erny Bärtschi stehen nach wie vor in der Küche und kochen dieTraditionsgerichte. Sie erzählen gern die Geschichte des Hauses - überdie erste Bergbahn 1934, den erste Skilift 1968, die beschwerlicheArbeit, bevor es 1974 elektrischen Strom gab.
Die Idylle vollerLebensqualität dort oben genießen sie besonders, wenn im Frühjahr dievioletten Blüten der Soldanelle (Alpenglöckchen) aus dem Schnee wachsen, im Juni der Enzian blüht; Murmeltier, Gams, Steinadler und Turmfalke zu beobachten sind. Sie verraten, wie man aus der Heilpflanze Arnika, dieim Sommer die Almen mit ihrem Duft verzaubert, das bewährteHausmittelchen gegen allerlei Krankheiten gewinnt.
Wie der typische Schweizer Käse noch in Handarbeit entsteht, zeigenSusanna und Fritz Germann in der Adelbodner Laueli Hütte. Eine Zeitreise zu den Germanns führt ins 18. Jahrhundert: Auf einem Holzkochherdbrodelt Wasser, unter dem großen Kupferkessel voll Milch brennt einoffenes Feuer, genauso wie 1744, als die Hütte errichtet wurde.
Keine Maschinen und kein Computerprogramm helfen bei der Herstellungvon Mutschli, Raclette-, Hobel- oder Alpkäse. "Käse ist Gefühlssache",sagt Käserin Susanna Germann. Und eine Wissenschaft für sich: Rezepteund Kniffe werden von Generation zu Generation weiter gereicht. "Wetter, Gras und auch die Laune des Käses ist wichtig", sagt Germann.
EchteKenner können sogar den Geschmack der Produkte verschiedener Hüttenunterscheiden. Die erhitzte Masse muss ständig in Bewegung bleiben,sonst gibt es Klumpen, die nicht mehr weggehen. Eine stetige Temperaturvon 36 Grad mit einem Holzfeuer zu regulieren erfordertFingerspitzengefühl. Nach einer halben Stunde Rührarbeit, Trennen derMolke und Abseihen durch ein Tuch bleiben von den 92 Litern Milch imKessel gerade einmal zwei Raclette-Käse à fünf Kilogramm übrig.
Und demBesucher reift die Erkenntnis, dass die Qualität eines Käses vor allemdavon abhängt, ob er optimal gerührt wurde: nicht zu schnell, nicht zulangsam, keinesfalls geschüttelt. Das Ergebnis kann vor Ort am urigenEsstisch im Nebenzimmer bei einem zünftigen Brunch gleich probiertwerden. Und das ist nicht very British, sondern typisch"adelbodnerisch".