Sommerträume in der Zarenstadt

Von schönen Frauen und goldenen Kuppeln, Champagner und Lifestyle. Weiße Nächte in einer brodelnden Stadt.

St. Petersburg. Schöne Frauen in grünen Seidenminis und bodenlangen Kleidern stehen an der Balkonbrüstung. Vortänzerinnen mit endlosen Beinen balancieren auf dem Bartresen.

Die goldene Kuppel der Isaak-Kathedrale ist zum Greifen nahe. Wodka und Champagner fließen in Strömen auf der Dachterrasse des neu eröffneten „W“- Designhotels.

Es ist 23.30 Uhr und taghell. In diesem Moment geht über der Zarenstadt St. Petersburg als feuerroter Ball die Sonne unter. Fast zwei Stunden wird es noch dauern, bis sich eine Ahnung von Nacht über die Kanäle und Flüsse, die pompösen Bauensembles und rund 500 Brücken von Russlands kultureller Hauptstadt senkt. Ein beträchtlicher Teil der 4,5 Millionen Einwohner scheint auf den Beinen.

Der Nachthimmel leuchtet in einem tiefen Blau, die Paläste und die (halb europäisch, halb russisch-orthodox) geprägten Kirchen setzen sich als schwarze Silhouetten ab. Auf den Wellen des Newa-Flusses, der St. Petersburg mit dem Finnischen Meerbusen verbindet, tanzen Hunderte Hafenbarkassen.

Um zwei Uhr früh gibt es keinen besseren Logenplatz für dieses spektakuläre Schauspiel: Vier riesige Stahlbrücken werden sich eine nach der anderen öffnen, um die großen Schiffe aus dem Golf von Finnland in die Stadt zu lassen.

Die St. Petersburger wissen mit dem Spektakel der Weißen Nächte von Ende Mai bis Anfang August umzugehen. Der Besucher ist geblendet von der Schönheit und muss erst lernen, den Schlaf richtig zu dosieren. Gar nicht so einfach, wenn Abendrot und Morgengrauen fast nahtlos ineinander übergehen und gegen vier Uhr der neue Tag anbricht.

St. Petersburg ist die nördlichste Millionen-Metropole der Welt. Eine Stadt der Superlative war das 1703 von Peter dem Großem auf Sumpfland gegründete und komplett durchgeplante Schmuckstück schon immer. Erst jetzt aber entwickelt sich das „Venedig des Nordens“ zur sommerlichen Feiermetropole.

Zu viel Düsternis lag im vergangenen Jahrhundert über den Weißen Nächten: 1917 der Ausbruch der russischen Revolution im damaligen Petrograd, die 900-tägige Belagerung durch die Nazis von 1941 bis 1944, die verordnete Strenge während der Sowjetzeit. Selbst die Wende, die 1991 aus Leningrad wieder St. Petersburg machte, brachte der heruntergewirtschafteten Stadt zunächst nur eine brutal harte Übergangszeit mit Lebensmittel-Rationen.

Doch seit dem Jahrtausendwechsel wirkt die Heimat von Anna Netrebko und Vladimir Putin wie elektrisiert. Hypermoderne Dachgarten-Restaurants wie das „Mansarda“ servieren russische Fusions-Küche. Auf der Haupteinkaufsmeile Newskij Prospekt mit vielen westlichen Geschäften flanieren Russinnen in kurzen Shorts und Ballerinas.

In einer Seitengasse hat sich eine eher rustikale Kneipen-Szene etwa mit dem Datscha-Club etabliert, der von einer Hamburgerin ins Leben gerufen wurde. Direkt im Zentrum eröffnete die New Yorker Lifestyle-Hotelkette „W“ ihr erstes Hotel in Russland — wie vieles im neuen Russland und ganz besonders in St. Petersburg nicht gerade billig.

„Besucher, Besucher — ein Museum ist nicht für Touristen da! Es geht um unser Erbe“, entrüstete sich jüngst ausgerechnet der Direktor der Eremitage, Mikhail Piotrovsky.

Und irgendwie kann man den Mann ja auch verstehen: 1047 Zimmer, drei Millionen Kunstschätze. Unaufhörlich wälzt sich der Strom der Besucher durch das weltberühmte Ensemble des Winterpalasts, das größte Museum der Welt. Trotzdem: Ein Besuch ist ein Muss und unvergesslich.

Um den Marathon der Weißen Nächte angemessen zu durchleben, macht man’s am besten wie die Einheimischen: Gegen 17 Uhr eine Kleinigkeit essen, um 22 Uhr noch mal richtig. Ein guter Startpunkt ist das Traditionsrestaurant „The Idiot“, plüschig eingerichtet wie bei Oma, benannt nach dem gleichnamigen Roman von Dostojewski.

Hier gibt es Pelmenis, eine Art Ravioli gefüllt mit Kartoffeln oder Pilzen, Kaviar auf Blinys und Wodka. Um 20 Uhr, bei Verlassen des Lokals, steht die Sonne hoch über den Parks. Pärchen turteln auf Bänken. Kinder laufen Möwen nach. Es ist noch viel Zeit bis zum Ablegen der Newa-Boote.

Eine neue Weiße Nacht will erobert sein.

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