Vereiste Riesen - Höhenrausch auf den weißen Bergen Perus

Huaraz (dpa/tmn) - Wer die Cordillera Blanca im Nationalpark Huascarán besteigt, steht auf dem vergletscherten Dach Perus. Ein beliebter Gipfel ist der Nevado Pisco. Der Aufstieg führt an Grenzen. Der Blick raubt einem nicht nur wegen der dünnen Luft den Atem.

Den weißen Bergen Perus nahezukommen, ist nicht schwierig. Aber es ist ein mühsamer Weg bis zu einem Ort, an dem sich ihre Erhabenheit wirklich erschließt. Huaraz ist die Stadt der Trekkingtouristen. Sie liegt auf etwa 3100 Metern in den Anden. Hier beginnt eine Reise, die in das Innere des Gebirges führt, durch seine Falten und Verwerfungen bis hoch auf das ewig weiße Dach.

„Gutes Wetter für den Pisco“, sagt Carlos Challupe Carrera. Der 34-Jährige steigt in den Geländewagen vor der kleinen Outdoor-Agentur nahe des Plaza del Armas. Carlos ist staatlich geprüfter Bergführer: schnittiges, jugendliches Gesicht, ruhiges Lächeln, das Shirt aus Funktionsfasern spannt über dem Oberkörper. Der Nevado Pisco ist der Berg, auf den er seinen Kunden in den kommenden drei Tagen führen wird: ein 5752 Meter hoher Firndom mitten in der Cordillera Blanca.

Der Wagen fährt das Callejón de Huaylas entlang und dann auf Schotterwegen hinauf zum Eingang des Nationalparks. Rechts der Straße ragt jetzt der Huascaran in die Höhe, kaum niedriger als der Aconcagua auf der Grenze zwischen Argentinien und Chile, mit 6962 Metern der höchste Berg der Welt außerhalb Asiens. Gegen Mittag erreicht das Allradfahrzeug das Lager Cebollapampa auf 3900 Metern. Es sieht ein bisschen aus wie in einem Winnetou-Film. Carlos baut sein Zelt auf, Marcus - auf dieser Tour angeheuert als Koch und Organisator - das achteckige Gemeinschaftszelt.

Das Tal ist beliebt bei Trekkingtouristen, die für einen Tag hinauf zur Laguna 69 steigen, einem kleinen Gebirgssee auf 4600 Metern Höhe. Für den ersten Tag der Pisco-Besteigung ist die Lagune ein gutes Ziel, um sich zu akklimatisieren. Carlos verrät auf dem Weg hinauf ein paar Tipps, um mit der Höhe besser klarzukommen: „Trinken, bevor du durstig bist.“ Oder: „Viele kleine Portionen essen, weil der Körper beim Verdauen sonst zu viel Blut in den Magen schießt, das den Muskeln fehlt.“ Eine junge deutsche Tagestouristin keucht am Wegrand. „Das ist das Härteste, was ich je gemacht habe“, sagt sie.

Wer ohne Wartezeit in Huaraz gleich zur Lagune aufbricht, merkt die mangelnde Höhenanpassung: Schwindel, Kopfschmerzen, Erschöpfung. Bis etwa 5500 Meter kann sich der Körper an die Höhe gewöhnen. Weiter oben ist das nicht mehr möglich: „Der Mensch kann ein paar Tage dort bleiben, aber nicht Wochen“, sagt Carlos.

Die Wanderer an der Laguna 69 atmen erst mal tief durch. Die Luft ist kalt und klar. Der See strahlt so blau wie die Blüten der Vergissmeinnicht, dahinter fällt die fast senkrechte, vereiste Südwand des Chacraraju in zerfurchten Hängegletschern zu dem kleinen Gewässer hin ab. Das Eis scheint zu Fuß nur zehn Minuten entfernt zu sein. Die Lagune ist ein Ort, von dem man am Tag kaum den Blick abwenden kann, an dem man aber nicht ungeschützt auf die Dunkelheit warten möchte - deshalb Abstieg zurück ins Lager unten im Tal.

Der nächste Tag ist sonnig: Aufstieg zum Basislager auf 4600 Metern. Vier Amerikaner steigen auf dem gleichen Weg ab. Hängende Mundwinkel, resignierte Gesichter. Noch vor dem Gletscher ist die Gruppe umgekehrt. Schon in der Nacht vor dem Aufstieg hatten sie alle marternde Kopfschmerzen. „Richtig schlimm“, sagt Beth. Den Bergführer kümmerte das wenig. „Der hat auch kaum mit uns gesprochen.“ Die vier waren erst knapp eine Woche in Peru, als sie die Tour in Huaraz buchten. Der Bergführer hätte wissen müssen, dass ein Aufstieg auf über 5500 Meter damit kaum zu schaffen war.

Im Basislager des Pisco kontrolliert Carlos am Nachmittag noch einmal die Ausrüstung, die von den Maultieren hinaufgetragen wurde. Als sich um 1.00 Uhr in der Nacht der Reißverschluss des Zelts öffnet, leuchten die Sterne am Himmel.

Nach etwa zwei Stunden Aufstieg ist der Gletscher erreicht. Erst die Steigeisen und Gamaschen anlegen, dann anseilen. Die Finger werden durch die Kälte taub. Carlos manövriert seinen Kunden jetzt durch die zerklüftete nächtliche Eislandschaft, die von bis zu 60 Meter tiefen Spalten durchzogen ist: schwarze Abgründe im weißen Schnee.

Kurz vor Morgengrauen scheint der Gipfel nur noch einen Steinwurf entfernt, aber das täuscht. Die Erschöpfung kommt immer häufiger, nach zehn Schritten, nach fünf, aber das ist normal. „Wenn es einem Kunden wirklich schlecht geht, dann sehe ich das“, sagt Carlos. Dann lässt er ihm erst selbst die Wahl abzusteigen. „Aber wenn er keine Entscheidung findet, mache ich das.“ Bisher sei das nie ein Problem gewesen.

Die Bergflanke des 6395 hohen Huandoy leuchtet orange in der Morgensonne. Im Norden haftet noch der Mond am Dunkelblau des Himmels, während sich ein rosa Streifen über die weißen Berge legt. Weiter östlich verpassen die ersten Lichtstrahlen den schneebedeckten Eisriesen einen blassen Anstrich in Apricot. Da ragt der Artsonraju in den Himmel, Vorbild für das Logo der US-Produktionsfirma Paramount Pictures, und der Alpamayo, der wegen seiner trapezförmigen Gipfelpyramide oft der „schönste Berg der Erde“ genannt wird.

Der Gipfel des Pisco gibt den Blick frei über die aufgezogenen Wolken, die aussehen wie ein Meer aus Watte und nur von den Gipfeln der Cordillera Blanca durchstochen sind. Es sieht so aus, als schaue man aus der Kabine eines Flugzeug, aber der Wind und die Sonne, das glitzernde Eis unter den Füßen und der Dampf der Atemluft sind Beweis dafür, dass es an diesem Ort keine Grenze gibt zwischen dem Mensch und der einsamen Natur, in der er sich befindet.