Voyeurismus oder Entwicklungshilfe? - Slumtourismus boomt
Osnabrück (dpa/tmn) - Mit Zoobesuchern vergleichen Kritiker Touristen, die sich in Gruppen durch Slums führen lassen. Mit dieser Ansicht macht man es sich aber zu leicht, finden Forscher. Es gehe darum, das ultimative Andere kennenzulernen.
In neongelben Warnwesten und unter schneeweißen Fahrradhelmen fährt die Touristengruppe über den roten Sand von Katutura. Die Bewohner des Townships in Namibias Hauptstadt Windhuk haben Mitleid mit den Weißen, weil die Radler, die ja ganz offensichtlich ein Rennen fahren, so furchtbar langsam sind. Die Schwarzen klatschen und johlen - um die lahmen Sportler anzufeuern. Anna Mafwila erinnert sich noch gut an ihre erste Township-Tour.
„Da sind plötzlich die Touristen zum Objekt der Beobachtung geworden - die Blickrichtung kehrt sich um“, analysiert der Sozialgeograf Malte Steinbrink die Situation, von der Mafwila erzählt. Er lehrt am Institut für Geographie der Universität Osnabrück und ist Mitglied im Forschungsprojekt „Slumming“, das sich mit städtischem Armutstourismus beschäftigt. Annas „Katutours“ sind eine Art von Slumtourismus, die ihm gefällt.
Über die Schattenseiten sagt der Wissenschaftler: „Pauschal behauptet man gern, es sei eine Form des Voyeurismus, man vergleicht es mit Zoo-Besuchen.“ So einfach dürfe man es sich aber nicht machen. Viel spannender als die Frage „Ziemt sich das?“ findet Steinbrink ohnehin die Frage: „Warum sind sich da alle so einig? Ist das Wegschauen besser als hinzusehen? Und: Welche Auswirkungen haben die moralischen Zweifel auf die touristische Praxis?“.
Bei den Touranbietern zeichneten sich drei Hauptstrategien ab, sagt Steinbrink. Einige Anbieter deuten den Voyeur um zum Kulturreisenden. Andere Veranstalter versprechen: „Einen Teil der Einnahmen spenden wir.“ Der dritte Tourguide-Typus wirbt: „Wir zeigen euch die andere Seite, die wirkliche Seite.“
Einer der Anbieter ist Carsten Möhle. Seit 17 Jahren gehören Slumtouren durch Katutura in Windhuk zu seinem Rundreisen-Programm. Bis zu sieben Touristen fahren in einem offenen Geländewagen durch den Slum. Oft steigen Kinder zu. „Unsere Gäste verteilen dann Eiswürfel an sie als kleine Erfrischung.“
Steinbrink ist skeptisch: „Da werden die Kinder angelockt, damit die Touristen etwas zum Knipsen und Knuddeln haben.“ Knipsen ist auch für Julia Burgold vom Institut für Geographie der Universität Potsdam ein schlechtes Zeichen. Burgold promoviert über Slumtourismus und hat sich vor allem mit dem Slum Dharavi im indischen Mumbai beschäftigt. Auch sie will das Phänomen nicht pauschal bewerten. „Es kommt auf die Art und Weise an, wie die Touren durchgeführt werden“, sagt sie.
Burgold zählt auf, was Touristen bei der Wahl eines Anbieters beachten sollten - wie das Knips-Verbot: Ein gutes Zeichen sei es, wenn der Tourguide den Teilnehmern verbietet, die Bewohner zu fotografieren. Rücksichtsvoller sei es außerdem, wenn die Besucher zu Fuß unterwegs sind statt in Geländewagen oder gar Bussen. Allerdings sind die Touristen laut Steinbrink selbst in der Pflicht: „Auch Touristen, die zu Fuß unterwegs sind, können sich unsensibel verhalten, etwa indem sie hemmungslos in Gesichter fotografieren.“
Steinbrink hat schon viele Slums gesehen und auch mitbekommen, wie sich der Armutstourismus im Laufe der Zeit verändert hat. „Der Markt boomt richtig.“ Jährlich kämen ein bis zwei Städte weltweit dazu, in denen Slumtouren angeboten werden. Jährlich machten mehr als eine Million Touristen eine solche Tour mit. Inzwischen gebe es auch Touren mit Quads, Musiktouren, Paintball-Spiele im Slum oder sogar Bungee-Jumping - so zum Beispiel in Soweto bei Johannesburg. „Das trifft es ja eigentlich ganz gut“, findet Steinbrink. „Slumtourismus ist ja irgendwie auch ein soziales Bungee-Jumping.“
Literatur:
Julia Meschkank: Dharavi - Ein Ort der Armut? Untersuchungen zum Slumtourismus in Mumbai, Universitätsverlag Potsdam, 2013, 149 Seiten, 10,00 Euro, ISBN-13: 978-3869562407