Fangesang-Geschichte: „Deutscher Meister 33 . . . nur damit es jeder weiß!“
Die Fans singen heute noch vom Titelgewinn 1933. Doch wie war das eigentlich an diesem 11. Juni in Köln gegen Schalke 04? Ex-Fortune Matthes Mauritz (87) weiß es, er war damals im Stadion.
Düsseldorf. Es ist die Nacht zum 11. Juni 1933. Der achtjährige Matthes Mauritz liegt in seinem Bettchen über der Bäckerei in der Ludenberger Straße und wälzt sich hin und her. Er kann nicht schlafen. Schließlich ist morgen ein ganz besonderer Sonntag: Fortuna Düsseldorf spielt in Köln gegen Schalke 04 um die Deutsche Fußball-Meisterschaft — und er wird dabei sein. Seit Tagen hat er seinen Freunden beim Kicken auf dem Staufenplatz damit schon die Nase lang gemacht.
Am nächsten Morgen sitzen Vater Matthias und der kleine Matthes nervös am Frühstückstisch. Bäcker Mauritz ist ein glühender Fußball-Fan, spielt selbst beim BC 05, einem kleinen Klub in Grafenberg, und pilgert natürlich regelmäßig mit dem Sohnemann an den Flinger Broich zur Fortuna. Die beiden Fans können es kaum erwarten, bis endlich die Gebrüder Schlebusch vorfahren. Die haben einen Getränkehandel und den Wagen, der alle vier zum Endspiel bringen soll.
Es regnet in Strömen. Und dass schon seit Samstagabend. Trotzdem herrscht rund um den Kölner Dom schon am Vormittag Endspielstimmung: Grüppchenweise outen sich die Fußballverrückten. Mit kleinen Fähnchen zeigen sie ihre rot-weiße oder blau-weiße Gesinnung. Im Hauptbahnhof rollen die ersten Sonderzüge ein. Halb Gelsenkirchen ist da, obgleich die Düsseldorfer den kürzeren Weg haben. In den Gaststätten um den Dom zapfen sich die Wirte jetzt schon die Finger wund. Aber es scheint, als zöge eine unsichtbare Macht die Massen in eine Richtung. Ob in überfüllten Straßenbahnen, zu Fuß oder mit Autos: nach Müngersdorf, zum Stadion.
Die Schlebuschs gondeln mit Vater und Sohn Mauritz über die Landstraßen rheinaufwärts. Hinten im Wagen sitzt der kleine Matthes mit feuchten Händen und findet die Fachsimpelei der Erwachsenen ziemlich unerträglich. „Fortuna hat keine Chance!“ „Schalke ist viel zu stark.“ Der Achtjährige hält nichts von solcher Bescheidenheit und krakeelt: „Fortuna gewinnt!“ Schalke ist zwar die wohl am besten besetzte Mannschaft Deutschlands mit Tibulski, Kuzorra und Szepan, aber Fortuna ist immerhin ohne ein einziges Gegentor in dieses Finale gekommen. Die Truppe von Trainer Heinz Körner hat Vorwärts-Rasensport Gleiwitz (9:0), Arminia Hannover (3:0) und Eintracht Frankfurt (4:0) geputzt. 16:0-Tore, da darf man doch ein wenig optimistischer sein, findet Matthes, als der Wagen die Straße über den Truppenübungsplatz in Müngersdorf entlangrollt. Das Stadion ist ganz nah.
Die Spieler des FC Schalke machen sich nach absolviertem Trainingslager am Halterner Stausee im angemieteten Kölner Hotel Minerva langsam abfahrbereit. Fortunas Fußballer lassen es gemütlicher angehen: Mittagessen zu Hause, um 12 Uhr ist Treffpunkt am Dorotheenplatz in Flingern und dann geht es mit dem Bus direkt ins Stadion. Die Rheinbahner Zwolanowski und Mehl kommen direkt von der Schicht. Nur weil es ein Endspiel ist, werden keine großen Umstände gemacht.
Die Tore zur „Kampfbahn“ stehen schon seit 9 Uhr morgens offen und einige Zuschauer trotzen schon seit Stunden dem Regen, um sich die besten Plätze zu sichern. Doch erst jetzt, um 14 Uhr, wogen vor dem Stadion die Menschenmassen hin und her. Glücksritter versuchen, noch Karten auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Doch Höchstpreise erzielen sie nicht, die Nachfrage hält sich in Grenzen.
Endlich hört der Regen auf. Eine leichte Brise lässt die Fahnen im Stadion flattern. Rot-weiße, blau-weiße und die unvermeidlichen mit dem Hakenkreuz. Vater und Sohn Mauritz haben ihren Platz auf der Tribüne gefunden. Der kleine Matthes drückt die große Bäckerpranke seines Vaters ganz fest. Seine Blicke zucken umher: Das ist das Größte, was er bisher erlebt hat. 53 000 Zuschauer sehen ungeduldig dem Ballgelümmel zweier Kölner Jugendmannschaften zu. Die 10 000 Düsseldorfer sind eindeutig in der Unterzahl. Nach dem Vorspiel bläst eine Standarten-Kapelle im Braunhemd den Marsch. Um 15.40 Uhr betritt Reichssportkommissar Hans von Tschammer und Osten die Mannschaftskabinen und wünscht allerseits recht viel Glück, bevor er in seinen Nerzmantel gehüllt neben DFB-Präsident Felix Linnemann in der Ehrenloge Platz nimmt. Es ist eindeutig zu kalt für Juni.
Es wird ernst: Um 15.45 Uhr läuft Schiedsrichter Alfred Birlem mit den Linienrichtern ein. Ihm folgen, angeführt von Ernst Kuzorra und Fortuna-Torhüter Willi Pesch, die Mannschaften. Das Stadion explodiert vor Jubel. Matthes hat Gänsehaut. Auch Vater Mauritz ist der Ekstase nah. Aufstellung vor der Tribüne, Blitzlichtgewitter, Hitlergruß. Die Seitenwahl gewinnt Kuzorra gegen Fortuna-Kapitän Theo Breuer. Der Schalker wählt den Rückenwind, Fortuna stößt an.
Wie alle großen Finals beginnt auch dieses mit Mittelfeldgeplänkel. „Fortuna, Fortuna“, Vater und Sohn Mauritz stimmen ein. „Schalke, Schalke“, hallt es zurück. Dann geht es plötzlich ganz schnell: Breuer fängt eine Flanke von Rothardt ab und passt zu Bender, der weiter zu Janes. Mehl, der als rechter Läufe den am Meniskus verletzten Nationalspieler Ernst Albrecht ersetzt, kommt an den Ball und schickt Felix Zwolanowski steil. Dem Supertechniker aus Flingern klebt der Ball am Fuß. Er lässt S04-Torhüter Hermann Mellage stehen und schiebt lässig ein. Der Außenseiter Fortuna führt.
„Jaaaaaaaaaa!“ Auf der Tribüne wird Matthes von seinem Vater beinahe erdrückt und denkt sich: „Hab ich doch gesagt: Fortuna gewinnt.“ Aber noch sind 79 Minuten zu spielen.
Der Treffer tut dem Nervenkostüm der Düsseldorfer gut. Die Aktionen wirken sicherer, Fortuna spielt sich ein. Dieses Team ist ohnehin von sich überzeugt. In Pesch, Bender, Breuer, Zwolanowski stehen allein vier Flingeraner in der Mannschaft. Dazu kommen der Oberbilker Kobierski und der Gerresheimer Wigold. Der „Schweiger“ Paul Janes kommt aus Küppersteg und Bornefeld aus Solingen. Mehl ist Niedersachse und Trautwein kommt aus Süddeutschland. Absoluter Kopf der Mannschaft ist Georg Hochgesang, der Nürnberger. Wegen eines beruflichen Angebots war der gelernte Mechaniker nach Düsseldorf gekommen. Ein Glücksfall für Fortuna. Mit dem 1.FC Nürnberg war Hochgesang bereits dreimal Meister geworden, diese Erfahrung bringt der nur 1,65 Meter große 35-Jährige jetzt in sein viertes Endspiel ein. Mit überragender Technik dirigiert er den Fortuna-Sturm.
Der Regen setzt wieder ein. Schalke kombiniert hübsch, aber hübsch gewinnt nicht. Ernst Kuzorra und Fritz Szepan arbeiten sich an der Düsseldorfer Abwehr ab. Das Spielniveau nimmt ab, und die Massen werden ruhig.
Der Halbzeitpfiff reißt Vater Mauritz und Sohn Matthes auf der Tribüne aus ihrer angespannten Lethargie. „Papa, ich hab so’nen Hunger. Krieg ich eine Wurst?“, fragt der Kurze, und Papa kämpft sich zur Wurstbude durch.
Frisch gestärkt müssen die beiden mit ansehen, wie Schalke nach der Pause anrennt. Die Knappen mit ihren Stürmerstars scheinen ernst zu machen; Einige Male muss Matthes die Luft anhalten, um brenzlige Situationen in Fortunas Abwehr zu überstehen. Kann das gut gehen gegen diese Schalker?
Es kann. Breuer und Bender retten gegen Rothardt und Szepan. Und dann leitet Hochgesang die Entscheidung ein. Er passt auf Kobierski, der den Schalker Wohlgemut stehen lässt. Und plötzlich geschieht alles wie in Zeitlupe: Fortunas linker Läufer flankt hoch in den Strafraum. Der Ball segelt durch die Luft und der kleine Matthes verfolgt ihn mit weit aufgerissenen Augen, so als habe er Angst, das Leder sei eine Sternschnuppe, glücksversprechend, aber schnell wieder verschwunden. Schalkes Keeper Mellage zögert, soll er rauslaufen? Zu spät. Paul Mehl kommt herangerauscht und schießt die Fortuna-Fans in Ekstase. 70 Minuten sind gespielt, Fortuna führt 2:0. Gegen die Profitruppe aus dem Kohlenpott. Vater Mauritz liegt wildfremden Menschen in den Armen. Langsam wird den Fans klar, dass hier in Köln-Müngersdorf gerade Düsseldorfer Fußballgeschichte geschrieben wird.
Schalke gibt sich auf. Gegen diese Fortuna ist nichts zu holen. Zajons schießt sogar beinahe noch ein Eigentor.
Sechs Minuten vor Schluss macht Hochgesang noch sein ganz persönliches Meisterstück, das ihm in der Berichterstattung über dieses Spiel den Beinamen Triumphator einbringt. Bender spielt den 35-Jährigen frei, und als Mellage aus seinem Tor stürmt, um ihn aufzuhalten, hebt das Schlitzohr den Ball aus 16 Metern einfach über den Schalker ins Tor. 3:0. „Bravo Schorsch!“, rufen die Fortunen und Matthes Mauritz schmerzen vom Siegerlächeln langsam die Gesichtsmuskeln.
Kuzorra vergibt eigennützig die letzte Schalker Chance zum Ehrentreffer. Der Rest ist Schweigen. Auf den Rängen haben die einen keine Lust mehr hinzuschauen, die anderen scheinen zu befürchten, vor lauter Jubel den Abpfiff zu verpassen. Um 17.45 Uhr trillert die Pfeife von Alfred Birlem ein letztes Mal. Fortuna Düsseldorf ist Deutscher Fußballmeister 1933. Zum ersten und bis heute einzigen Mal.
Nach dem Abpfiff brechen alle Dämme. Hätte es Zäune gegeben, sie hätten nichts genutzt. Während die Schalker enttäuscht abziehen, stürmen die Düsseldorfer den Rasen und herzen ihre Helden. Matthias Mauritz hat auf der Tribüne alle Mühe zu verhindern, dass sein kleiner Sohn von den Massen mitgerissen wird.
Noch einmal wird es offiziell. Reichssportkommissar von Tschammer und Osten schart die Mannschaften im Mittelkreis um sich und beglückwünscht die Fortunen zu ihrem „ritterlichen Kampf“. Schließlich ruft der Nazi-Funktionär: „Dem neuen Deutschen Meister 1933, Fortuna Düsseldorf, ein der dreifaches Hipp Hipp — Hurra!“ Fortuna Kapitän Theo Breuer bekommt einen Siegerkranz überreicht und wird auf Schultern aus dem Stadion getragen.
Auf den Schultern von Matthias Mauritz sitzt sein Sohn Matthes, der gar nicht merkt, wie erschöpft er eigentlich ist: „Deutscher Meister Fortuna!“, schreit der Junge immer wieder, und die Gebrüder Schlebusch und sein Vater stimmen ein.
Die Rückfahrt wird ein Düsseldorfer Triumphzug mit vielen Zwischenstopps. Der hupende Konvoi windet sich rheinabwärts durch die Dörfer. Aus den Fenstern der Autos hängen rot-weiße Fähnchen, und an jeder Schenke machen die Düsseldorfer Halt, um auf die Deutsche Meisterschaft anzustoßen. Von Dorf zu Dorf tingeln die nicht nur Siegestrunkenen ihrer Heimatstadt entgegen.
Für die Fortuna-Spieler gestaltet sich die Abfahrt aus dem Stadion schwieriger. Der Bus ist schon nach Düsseldorf zurückgefahren, Taxis nicht zu bekommen. Also fahren Paul Janes und Co. mit der Straßenbahn zum Hotel Minerva, wo das DFB-Meisterbankett stattfindet. Die Hotelbetten nutzt aber kein Rot-Weißer — die Mannschaft feiert selbstverständlich durch. Meistgesungenes Lied: „An der Gasanstalt gegenüber, da liegt ein Sportplatz fein, ein rotes Hemdelein, ein weißes Höselein, das soll der Stolz der Fortuna sein.“
Als spät am Abend endlich die Bäckerei Mauritz erreicht ist, gibt der Vater Klein-Matthes nur eben ab. Diese Meisternacht wird er zum Tag machen. Zu Tausenden feiern Fußballfans in den Kneipen der Stadt. Matthes aber fällt todmüde ins Bett. Er muss Kräfte sammeln, für den Triumphzug, mit dem die Mannschaft morgen in der Stadt empfangen wird. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schläft er ein. Und nicht einmal im Traum denkt er daran, dass er schon zwölf Jahre später mit sieben Helden von Köln gemeinsam für Fortuna auf dem Platz steht. Dirigiert von Trainer Georg Hochgesang. Und er ahnt auch nicht, dass 80 Jahre später immer noch tausende Menschen bei Fortuna-Spielen singen: „Uns’re Heimat, uns’re Liebe, in den Farben Rot und Weiß. Deutscher Meister 33 . . . nur damit es jeder weiß!“